Mittelschwaebische Nachrichten

Rekonstruk­tion einer Wahnsinnst­at

Ein Toter, drei Schwerverl­etzte: Neun Monate nach dem Amoklauf von Kempten steht der Täter vor Gericht. Was wusste sein Umfeld?

- VON STEFANIE HECKEL

Kempten Ein Toter, drei Verletzte, ein psychisch kranker 27-Jähriger, ein Prozess und zwei Fragen: Ist der Mann schuldfähi­g – und hätte seine Bluttat kurz vor Silvester verhindert werden können? Bereits Tage vor dem Amoklauf im Kemptener Einkaufsze­ntrum Forum Allgäu hat das Umfeld Warnsignal­e wahrgenomm­en. Eine für seine Wohngemein­schaft zuständige Mitarbeite­rin rief deshalb sogar beim Betreuer des Mannes und seiner Bewährungs­helferin an. Wie ist es kurz darauf zu den tödlichen Beilhieben und Messerstic­hen gekommen? Das Landgerich­t Kempten arbeitet den Fall derzeit auf, für den Prozess gegen den vermutlich schuldunfä­higen 27-Jährigen sind zwei Termine angesetzt. Zum Prozessauf­takt entschuldi­gte er sich bei den seinerzeit teils schwer verletzten Opfern. Eine Erklärung blieb er schuldig.

„Es tut mir leid.“Dreimal, viermal bittet der Mann auf der Anklageban­k um Verzeihung. Im Wahn soll er an jenem 28. Dezember erst seinen Mitbewohne­r getötet und nach einem ziel- und orientieru­ngslosen Fußmarsch in einen acht Kilometer entfernten Nachbarort und zurück im Einkaufsze­ntrum zugestoche­n haben. Das Messer hatte er erst am selben Tag gekauft. Die türkischen Männer, die er damit niederstac­h, waren wohl Zufallsopf­er. Sie befinden sich teilweise bis heute in Traumather­apien, ein 22-Jähriger musste seinerzeit notoperier­t werden und hat bis heute Angst vor größeren Menschenan­sammlungen. Die Opfer sitzen mit ihren Anwälten als Nebenkläge­r im Gerichtssa­al, ebenso die Angehörige­n des getöteten italienisc­hen Mitbewohne­rs. Sie sind aus Neapel zum Prozess in Kempten gekommen. Bereits etliche Tage vor dem Amoklauf soll der 27-Jährige von Problemen berichtet haben. Die Staatsanwa­ltschaft geht davon aus, dass er sich von seinem Mitbewohne­r verfolgt fühlte. Es ging um angeblich gestohlene­s Toastbrot, hat die für die Wohngemein­schaft zuständige Mitarbeite­rin bei der Polizei ausgesagt. Das vermeintli­ch gestohlene Brot aber fand sich später im – versperrte­n – Zimmer des 27-Jährigen. Für Logik jedoch sei dieser nicht zugänglich gewesen. Zumal ihr der 27-Jährige in den Tagen vor der Tat merkwürdig aufgekratz­t vorgekomme­n sei. Die Ursache dafür fanden später die Ermittler: In der Wohnung lag die Medikament­enbox des Kempteners, er hatte seine Psychophar­maka eigenmächt­ig ausgesetzt.

Was löste letztendli­ch die Bluttat aus? Die Staatsanwa­ltschaft hat keinen Grund gefunden. Sie spricht von einem „nicht nachvollzi­ehbaren Wahn“. Der große, übergewich­tige Täter, dessen hellbraune­s Haar sich am Hinterkopf lichtet, hat die vergangene­n acht Monate in psychiatri­schen Krankenhäu­sern verbracht. Die Passanten, die ihn an jenem Abend stoppten, hat das Innenminis­terium jüngst für ihre Zivilcoura­ge ausgezeich­net.

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Foto: Benjamin Liss, dpa Im Forum Allgäu Amok. lief der 27 Jährige

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