Mittelschwaebische Nachrichten
Rekonstruktion einer Wahnsinnstat
Ein Toter, drei Schwerverletzte: Neun Monate nach dem Amoklauf von Kempten steht der Täter vor Gericht. Was wusste sein Umfeld?
Kempten Ein Toter, drei Verletzte, ein psychisch kranker 27-Jähriger, ein Prozess und zwei Fragen: Ist der Mann schuldfähig – und hätte seine Bluttat kurz vor Silvester verhindert werden können? Bereits Tage vor dem Amoklauf im Kemptener Einkaufszentrum Forum Allgäu hat das Umfeld Warnsignale wahrgenommen. Eine für seine Wohngemeinschaft zuständige Mitarbeiterin rief deshalb sogar beim Betreuer des Mannes und seiner Bewährungshelferin an. Wie ist es kurz darauf zu den tödlichen Beilhieben und Messerstichen gekommen? Das Landgericht Kempten arbeitet den Fall derzeit auf, für den Prozess gegen den vermutlich schuldunfähigen 27-Jährigen sind zwei Termine angesetzt. Zum Prozessauftakt entschuldigte er sich bei den seinerzeit teils schwer verletzten Opfern. Eine Erklärung blieb er schuldig.
„Es tut mir leid.“Dreimal, viermal bittet der Mann auf der Anklagebank um Verzeihung. Im Wahn soll er an jenem 28. Dezember erst seinen Mitbewohner getötet und nach einem ziel- und orientierungslosen Fußmarsch in einen acht Kilometer entfernten Nachbarort und zurück im Einkaufszentrum zugestochen haben. Das Messer hatte er erst am selben Tag gekauft. Die türkischen Männer, die er damit niederstach, waren wohl Zufallsopfer. Sie befinden sich teilweise bis heute in Traumatherapien, ein 22-Jähriger musste seinerzeit notoperiert werden und hat bis heute Angst vor größeren Menschenansammlungen. Die Opfer sitzen mit ihren Anwälten als Nebenkläger im Gerichtssaal, ebenso die Angehörigen des getöteten italienischen Mitbewohners. Sie sind aus Neapel zum Prozess in Kempten gekommen. Bereits etliche Tage vor dem Amoklauf soll der 27-Jährige von Problemen berichtet haben. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass er sich von seinem Mitbewohner verfolgt fühlte. Es ging um angeblich gestohlenes Toastbrot, hat die für die Wohngemeinschaft zuständige Mitarbeiterin bei der Polizei ausgesagt. Das vermeintlich gestohlene Brot aber fand sich später im – versperrten – Zimmer des 27-Jährigen. Für Logik jedoch sei dieser nicht zugänglich gewesen. Zumal ihr der 27-Jährige in den Tagen vor der Tat merkwürdig aufgekratzt vorgekommen sei. Die Ursache dafür fanden später die Ermittler: In der Wohnung lag die Medikamentenbox des Kempteners, er hatte seine Psychopharmaka eigenmächtig ausgesetzt.
Was löste letztendlich die Bluttat aus? Die Staatsanwaltschaft hat keinen Grund gefunden. Sie spricht von einem „nicht nachvollziehbaren Wahn“. Der große, übergewichtige Täter, dessen hellbraunes Haar sich am Hinterkopf lichtet, hat die vergangenen acht Monate in psychiatrischen Krankenhäusern verbracht. Die Passanten, die ihn an jenem Abend stoppten, hat das Innenministerium jüngst für ihre Zivilcourage ausgezeichnet.