Mittelschwaebische Nachrichten
Der Mann, der aus seiner Zeit ausbrach
Der Schriftsteller H. G. Wells war einer der ersten Stars des Genres. Vor allem zwei Werke waren es, mit denen er sich unsterblich machte
Was wäre, wenn H. G. Wells tatsächlich eine Zeitmaschine erfunden hätte – und damit ins Jahr 2016 geflogen wäre? Vermutlich würde er sich wundern, dass auch noch 150 Jahre nach seiner Geburt viele seiner Geschichten verfilmt werden. Derzeit läuft in den Kinos „Independence Day 2: Wiederkehr“. In Großbritannien wird die nächste Staffel – die wievielte auch immer es mittlerweile ist – von „Doctor Who“gedreht. Serien wie „Big Bang Theory“kämen nicht aus, ohne wenigstens ab und zu an H.G. Wells zu erinnern. Gerade erst ist das Jahr 2015 vergangen, ohne dass Michael J. Fox aus einer DeLoreanZeitmaschine gestiegen wäre, wie in „Zurück in die Zukunft II“(1989). Und irgendwo träumt Tom Cruise von Marsmenschen, die seine Tochter töten wollen.
Es sind diese beiden Bücher, „Die Zeitmaschine“und „Krieg der Welten“, die Herbert George Wells unsterblich gemacht haben. Daneben schrieb er Romane wie „Der Unsichtbare“oder „Die Insel des Dr. Moreau“. Es war diese Verbindung aus Wissenschaft – Wells hatte diverse Naturwissenschaften studiert – und dystopisch-düsterer Vision, die ein ganzes Genre prägten.
Wells war keinesfalls unumstritten. Neben seinen zwei Ehen hatte er zahlreiche Affären und uneheliche Kinder. Seine sozial-darwinistische Einstellung würde heute ebenfalls befremdlich wirken. Wells’ Vorstellungen von freier Liebe und Sozialismus waren im viktorianischen England mindestens unkonventionell. Das galt zweifellos auch für sein literarisches Werk. Eine Weltneuheit allerdings war es nicht. Weder die Science-Fiction generell – als Ur-Werk gilt Mary Shelleys „Frankenstein“(1818) –, noch das Motiv der Zeitmaschine oder das der Alien-Invasion.
Auch Zeitreise-Geschichten gab es schon lange vor Wells’ Geburt. 1733 schrieb Samuel Madden bereits die „Memoirs Of The Twentieth Century“, und Charles Dickens’ „Weihnachtsgeschichte“von 1843 enthält ebenso Elemente von Zeitreisen. Bis 1881 waren die Zeit-Reiseleiter allerdings Engel, Geister oder schlicht unerklärt. Dann kam Edward Page Mitchell und veröffentlichte die Kurzgeschichte „The Clock That Went Backward“. Der US-Amerikaner erdachte sich eine Uhr, mit deren Hilfe die Helden in den niederländischen Unabhängigkeitskrieg zurückreisen.
Die Geschichte blieb jedoch weitestgehend unbekannt. Ob H. G. Wells sie kannte, ist unklar. 1888 jedenfalls schrieb er „The Chronic Argonauts“, ebenfalls eine Kurzgeschichte. Nicht nur, dass es hier eine Zeitmaschine gab – es gab auch den Erfinder dazu. Die Geschichte entwickelte Wells 1895 zur „Zeitmaschine“weiter. Mit ihr erreichte eine neue Idee ein breites Publikum: Der Mensch herrscht über die Gesetze von Raum und Zeit. Und es gibt eine quasi-wissenschaftliche Erklärung für dieses Wunder der Technik – Schlüsselelement moderner Science-Fiction.
Die Idee wurde zum Selbstläufer. Und die Zeitmaschine bekam Verbesserungen. „Wenn man schon eine Zeitmaschine in einen Wagen einbaut, dann bitteschön mit Stil“, sagt Emmett Brown (Christopher Lloyd) im Film „Zurück in die Zukunft“. Noch etwas verrückter ist vielleicht die Zeitmaschine „Tardis“aus „Doctor Who“, die sich seit 1963 als blaue Polizei-Notrufzelle tarnt.
Doch auch das Original von 1895 gibt es noch. Zuletzt verfilmte Wells’ Urenkel Simon Wells 2002 die Geschichte um den Wissenschaftler, der im Jahr 802 701 die friedlich-naiven Eloi und die menschenfressenden Morlocks trifft – nicht ohne eine Erwähnung des Urgroßvaters in einer futuristischen Datenbank. In „Flucht in die Zukunft“von 1979 ist Wells senior sogar selbst der Protagonist, hat eine Zeitmaschine erfunden und verfolgt Jack the Ripper in die Zukunft. In Fernsehserien wie „Doctor Who“oder der Superman-Serie „Lois und Clark“war H.G.Wells ebenfalls als Zeitreisender unterwegs.
Viele andere Literaten wären froh, wenn ihnen ein einziger derartiger Erfolg gelänge. Doch H. G. Wells konnte sogar nachlegen – mit dem „Krieg der Welten“. 1898 veröffentlichte er die Geschichte von Marsianern, die alles Leben auf der Erde vernichten wollen und technologisch derart überlegen sind, dass selbst die modernsten Armeen keine Chance haben – bis Viren die Aliens infizieren und töten. Das Motiv der Alien-Invasion findet sich zwar bereits in „The Germ Growers“von Robert Potter (1892). Doch die Geschichte erhielt seinerzeit kaum Beachtung – sehr im Gegensatz zu Wells’ Roman.
Das Buch entwickelte eine Eigendynamik, die Legende wurde. 1938 vermochte Orson Welles, später Regisseur von „Citizen Kane“, mit einer Radio-Version des „Kriegs der Welten“halb New York in Panik zu stürzen. Dort hielt man das Hörspiel für echt, eine Massenpanik war die Folge. Die beiden „Übeltäter“Wells und Welles begegneten sich übrigens 1940. 1996 verfilmte Roland Emmerich mit „Independence Day“den „Krieg der Welten“quasi neu, aber gewürzt mit einer starken Prise US-Patriotismus. Als besondere Pointe und Anspielung auf Wells’ Werk schlägt die Menschheit die Aliens übrigens mittels eines Computer-Virus.
Die Ideen von H.G.Wells haben Generationen inspiriert. Und werden es wohl auch weiterhin tun. Solange es im Kino Wissenschaftler in Zeitmaschinen und Alien-Invasionen gibt. Wells war übrigens auch ein guter Wahrsager: In einigen seiner visionären Werke sagte er die Atombombe, den Zweiten Weltkrieg und auch den Kalten Krieg voraus. Als hätte er tatsächlich eine Zeitmaschine erfunden.