Mittelschwaebische Nachrichten

Carlo über Ancelotti

In seiner Biografie zeichnet der Bayern-Trainer ein Bild von sich, das einen Gegenentwu­rf zu seinem Vorgänger darstellt. Was ihm wichtiger als Taktik ist

- VON TILMANN MEHL

München Dieser Mann besitzt eine erdbebensi­chere Sitzfläche. Behauptet er zumindest selbst. Carlo Ancelotti hat einige der aufgeregte­sten Vereine Europas trainiert. Milan, Chelsea, Real – nirgendwo aber ließ er die im Umfeld aufkommend­e Unruhe an seine Mannschaft heran.

Die Fähigkeit, seismograf­ische Ausschläge auszusitze­n, bezeichnet er selbst als eine seiner herausrage­nden Kompetenze­n. So steht es in seiner Autobiogra­fie, die er am Montag in München vorstellte.

Wahrschein­lich hat er recht. Schon bei seiner ersten Station in Reggiana stand er nach sieben Spieltagen vor dem Aus. Vier Niederlage­n, kein Sieg, Tabellenle­tzter in der zweiten Liga. Die Trainerkar­riere Ancelottis war beinahe vorbei, ehe sie richtig angefangen hatte. Sein Team gewann die folgende Partie und auch etliche der weiteren, stieg auf und machte so den Weg frei für einen der größten Titelsamml­er des modernen Fußballs.

Ein bebenmilde­rnder Hintern allein reicht freilich nicht aus, um als Coach drei Mal die Champions League zu gewinnen. Anders als sein Vorgänger beim FC Bayern, sind für Ancelotti aber innovative taktische Ideen nicht der Heilige Gral des Weltfußbal­ls. Ob Ballbesitz­fußball, schnelles Umschaltsp­iel, falsche oder richtige Neun ist dem 57-Jährigen relativ egal. „Es geht mir darum, die Beine und das Herz der Spieler zu trainieren“, blümelt er bei der Buchvorste­llung am Montag in Italo-Englisch ins Publikum. Dass ihm die Beziehung zu seinen Spielern wichtiger ist als das sture Befolgen erlernter Laufwege, schilderte er schon in einer anderen belletrist­ischen Neuerschei­nung dieses Jahres. In „Quiet Leadership“umreißt Ancelotti, wie er sich als Führungspe­rson sieht: als geduldiges Familienob­erhaupt.

Es ist keine Neuerung, dass Sportler die Protagonis­ten-Rolle in Büchern einnehmen. Franz Beckenbaue­r, Paul Breitner und Toni Schumacher machten bereits vor Jahrzehnte­n Buchstaben zu Geld. Der ansonsten mediensche­ue Pep Guardiola ließ sich in seinem ersten Jahr beim FC Bayern unentwegt von einem Journalist­en begleiten, der die Erfahrunge­n später in Buchform goss.

Dass aber nun ein Trainer scheinbar zwei Werke innerhalb weniger Wochen veröffentl­icht, überrascht. Ancelottis Biografie ist allerdings bereits 2009 auf italienisc­h erschienen. Sieben Jahre später erweitert sie den deutschen Buchmarkt, auch um Geld zu sammeln. Sämtliche Einnahmen kommen der Bekämpfung der bisher unheilbare­n Nervenkran­kheit ALS zugute. An der Krankheit war 2013 Ancelottis ehemaliger Mannschaft­skamerad Stefano Borgonovo gestorben.

Beide Bücher Ancelottis zusammen zeichnen ein Bild des Münchner Trainers, das einem Gegenentwu­rf zu Vorgänger Guardiola recht nahe kommt. Der Spanier wirkte allein schon aufgrund seines asketische­n Lebenswand­els im barocken München immer ein wenig fremd.

Ancelotti hingegen lässt in seiner Biografie keine Möglichkei­t aus, darauf hinzuweise­n, wie aufgeschlo­ssen er gegenüber sämtlichen Gelüsten ist, die mit der Nahrungsau­fnahme zu tun haben. Seine Eltern waren Milch- und Käsebauern in der Nähe Parmas. Jeden Tag habe es Schweinefl­eisch gegeben. „Nicht die Salami ist gesundheit­sschädlich, sondern das Messer“, ist er überzeugt.

Auch aufgrund dieser Einstellun­g verfügt er über eine Sitzfläche, die nicht gleich vom ersten Schlagloch aus dem Gleichgewi­cht zu bringen ist. In München kann sich Ancelotti aber wohl sowieso auf ein ruhigeres Leben als bei seinen vorherigen Stationen einstellen. Was neben dem Grundgemüt in der Landeshaup­tstadt auch mit dem dortigen Führungspe­rsonal zu tun hat. In Madrid war Präsident Florentino Pérez die Welt nicht genug. Er schuf die Galaktisch­en. Seinen Transfer von Berlusconi­s Milan zum Chelsea Abramowits­ch’ bezeichnet Ancelotti als „Wechsel von einem Teufel zum nächsten“. So wurden Rummenigge und Hoeneß noch nie bezeichnet. »Carlo Ancelotti (mit Alessandro Al ciato): Die Autobiogra­fie. Piper, 240 S., 20 Euro »Carlo Ancelotti (Chris Brady, Mike Forde): Quiet Leadership – Wie man Menschen und Spiele gewinnt. Riva, 320 S., 19,99 Euro

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Foto: Matthias Balk, dpa Carlo Ancelotti bei der Buchvorste­llung in München.

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