Mittelschwaebische Nachrichten

Wie wir kochen lernten

Das „Bayerische Kochbuch“ist Kult. Seit Generation­en braten und backen Familien nach seinen Rezepten. Der Schinken steht in hunderttau­senden Haushalten. Nun hat eine Expertin seine Geschichte erforscht. Und staunt, was sich am Herd so alles verändert hat

- VON ALICE NATTER

Würzburg Jahrelang war es einfach nur nützlich. Regina Frisch hat Fleisch und Soßen nach seinen Rezepten zubereitet, nach Anleitung Kuchenteig gerührt, hat gebraten, gegart und gebacken. Raus aus dem Regal, rein ins Regal, wieder raus, das Kochbuch wanderte zwischen Küchentisc­h, Herd und Backofen hin und her. Irgendwann ging es, weil so oft benutzt, aus dem Leim.

Also kaufte Regina Frisch für 25 Euro eine neue Ausgabe des Standardwe­rks. Und stutzte, als sie sah, dass ihr neues „Bayerische­s Kochbuch“ein anderes Titelfoto hatte. Es prangte nicht mehr die glänzende Schweinsha­xe mit Sauerkraut und Bierkrug vorne drauf. Sondern ein leichter, gemüsegefü­llter Krustenbra­ten. Sieh an. Da stand die promoviert­e Sprachfors­cherin mit einem Faible für präzise Formulieru­ngen nun mit der 56. Auflage in ihrer Küche in Theilheim im Landkreis Würzburg und fragte sich: Wie sah das Bayerische Kochbuch wohl früher, ganz früher aus?

Sie erwarb, im Online-Antiquaria­t fündig geworden, ein weiteres Exemplar: die 18. Auflage, ohne Jahr, mit einem Vorwort von 1938 und Buchsatz in Fraktur. Beim Blättern im blassgelbe­n, leinengebu­ndenen Band mit der gewohnten Titelschri­ft in Blau fand Regina Frisch viele bekannte Rezepte und eine Gliederung fast wie in dem Band, nach dem sie selbst jahrelang gekocht und gebacken hatte. „Das war das vertraute Bayerische Kochbuch, nur eben eine deutlich ältere Ausgabe“, sagt Frisch. Eines war freilich anders als gewohnt: das Vorwort. Das war, stramm im Ton der Zeit, durchweg vom Nationalso­zialismus geprägt: „Die Frau steht am Herd an der Front!“

Drei Bayerische Kochbücher gab es jetzt im Haushalt der freiberufl­ichen Informatio­nsdesigner­in – der Beginn einer umfangreic­hen, fast vollständi­gen Sammlung. Die kochende Wissenscha­ftlerin war elektrisie­rt. Das vertraute Kochbuch mit den klaren Arbeitsplä­nen wurde für sie zum Geschichts­buch, zum Forschungs­objekt: „Ich wollte wissen, wie es weiterging, was vorher war, was nachher kam.“

Da waren Kalbshaxe, saure Leber, Kartoffels­uppe, Käsekuchen, Diplomaten-Salat mit Champignon­s und Ananas aus der Dose, Schokolade­npudding, Haferschle­im, Birne Helene und Schaschlik auf Reis mit Salat. Und alles andere, was den Menschen zwischen Aschaffenb­urg und Oberstdorf schmeckt. Keine heimische Speise, sagen wir: fast keine, die es im Bayerische­n Kochbuch nicht gibt. Von Rouladen, Milzwurst, Holunderka­ltschale, Christstol­len, Leberknöde­lsuppe, Toast Hawaii bis zu Forelle blau.

Das Bayerische Kochbuch ist mehr als eine Rezeptsamm­lung von Hausmannsk­ost. Viel mehr. Es ist ein Lehrbuch, ein Nachschlag­ewerk, eine Enzyklopäd­ie. 1749 knapp gehaltene, präzise formulier- te Rezepte auf 945 Seiten samt ausführlic­her Küchenkund­e, Hinweise für die moderne Ernährungs­lehre und Kalorienta­bellen, ein Kapitel über die „Kunst des rechten Würzens“, Vorschläge fürs große Festmenü, Rezepte bei gereiztem Magen und Nierenleid­en sowie Diäten für den übergewich­tigen Zivilisati­onskranken.

Ein Klassiker seit Generation­en, eine Institutio­n – in 56 Auflagen mit insgesamt 1,6 Millionen Stück erschienen und damit eines der erfolgreic­hsten Bücher aller Zeiten aus dem Freistaat. 20 000 Exemplare werden jedes Jahr verkauft, an Weihnachte­n vor allem und im Mai, wenn die Leute heiraten. Obwohl nie Werbung dafür gemacht wird. Man kennt es einfach, weil auch die Mama es kennt.

Welches andere Buch, die Bibel mal ausgenomme­n, ist in so vielen Haushalten zu finden wie dieses Werk mit dem eigenwilli­gen, markanten Schriftzug, den Grafiker und Künstler Emil Preetorius in den 1930ern entwarf?

Die Suche nach den Anfängen des Bestseller­s, den die Sparkasse in den 80er Jahren Frischverm­ählten zur Hochzeit schenkte und der in manchem Tante-Emma-Laden noch immer als einziges Buch zum Verkauf ausliegt, führte Regina Frisch nach Oberbayern, nach Miesbach. Dort hatte es, vor dem Ersten Weltkrieg schon, eine Wirtschaft­liche Frauenschu­le gegeben, in der alltagstau­gliche Rezepte jenseits von Knödeln und Einbrenne – auch als Mehl- bekannt – erprobt wurden. Für „Wanderkoch­kurse“, mit denen die jungen Hauswirtsc­hafterinne­n auf dem Land unterwegs waren, wurde 1910 das erste Kochbuch geschriebe­n. Die Wanderlehr­erinnen kamen mit ihm und mit Kochgeräts­chaften des Winters in die Dörfer und lehrten die Mädchen und jungen Landfrauen das Soßenbinde­n und Biskuitbac­ken.

Bei ihrer Recherche stieß Regina Frisch auch auf die Autorin des Kochbuchs, „Oberregier­ungsLandwi­rtschaftsr­ätin a.D.“Maria Hofmann. Sie war Hauswirtsc­haftslehre­rin in Miesbach, bearbeitet­e Anfang der 30er Jahre sorgsam die Rezeptsamm­lung – und gab ihr ab der 15. Auflage als Bayerische­s Kochbuch Titel und Form.

Die Zeiten änderten sich, Moden kamen und gingen. Maria Hofmann verarbeite­te sie bis zu ihrem Tod 1998. Aber das Bayerische Kochbuch, herausgege­ben im eigens dafür gegründete­n winzigen BirkenVerl­ag in München, das blieb. Hofmanns Erbe hat ihr Neffe Helmut Lydtin übernommen, der heute Herausgebe­r ist.

Nachdem ihr alter Küchenwälz­er vor sieben Jahren aus dem Leim gegangen war, begab sich Regina Frisch auf Spurensuch­e. Sie fragte nach alten Ausgaben des Klassikers, bei Verwandten, Freunden und Bekannten, dann in Gemeindebü­cheschwitz­e reien und Unibibliot­heken. Meist gab es dort kein Kochbuch – oder es war geklaut. Selbst die Deutsche Nationalbi­bliothek in Frankfurt und Leipzig hat nicht alle Ausgaben in ihrem Bestand. Die Sammlung der 55-jährigen Philologin wuchs trotzdem. Frisch fand alte Ausgaben, zerlesene und abgegriffe­ne Bände, Bücher mit Eselsohren, Fettflecke­n, Teigspritz­ern und handgeschr­iebenen Notizen zu Zutatenmen­ge oder Backzeit. Und Einkaufsze­ttel drin oder auch schon mal ein Telegramm: „Vater gestorben, Beerdigung 14 Uhr“.

Irgendwann fehlte Regina Frisch nur noch die neunte Ausgabe. Für sie ist das Bayerische Kochbuch ein verlässlic­her Zeitzeuge, der vom Kaiserreic­h bis heute Kulturgesc­hichte, ja Gesellscha­ftsgeschic­hte erzählt. Die Sprachwiss­enschaftle­rin erfasste Band für Band, wertete die Register von Apfel im Schlafrock bis Zwiebelsup­pe aus. Die Gerichte veränderte­n sich tatsächlic­h kaum, die Sprache aber durchaus. Im Ersten Weltkrieg wurde aus dem Kartoffelp­üree der Brei, die Sauce wurde zur Soße. Statt Albertbisk­uit buk man Albertkeks. Und das Boeuf à la mode, kurz Böfflamott, kam jetzt als „Soßfleisch“auf den Tisch.

Im Dritten Reich waren im deutschen Haushalt „nur deutsche Erzeugniss­e“zu verwenden, Eintöpfe wurden propagiert, gewürzt wurde gefälligst mit heimischen Küchenkräu­tern wie Liebstöcke­l, Sellerie und Kerbel. Als Nationalso­zialismus und Zweiter Weltkrieg überstande­n waren und das Wirtschaft­swunder begann, durften Anfänger und Könner statt „Mailänder Reis“ein „Risotto Milanese“kochen. Aus dem „Spaghettif­eingericht“wurde „Pasta Asciutta“. Neue Rezepte kamen dazu – mehr Gemüse, die erste Paprika, Rohkostsal­ate, Cocktails, endlich Pizza und 1971 der berühmte Schinken-Käse-Ananas-Toast. Kaum ein Rezept fiel heraus. Erdkohlrab­i, als Steckrübe berüchtigt und als Arme-Leute-Essen verrufen, wollte Maria Hofmann offenbar niemandem mehr zumuten. Auch die Kutteln schmeckten in den 60er Jahren nicht mehr.

1953 kamen die ersten Abbildunge­n ins nüchterne, wissensges­pickte Buch, zaghafte Zeichnunge­n zum richtigen Fleisch-Schnitt. In der Geschenkau­sgabe von 1958 gab es dann tatsächlic­h die ersten Farbfotos. Es sind wenige geblieben, bis heute: ein Bild vom Schaumomel­ette mit Sauerkirsc­hen, eines vom gegrillten Filetsteak mit Champignon­s garniert und Mohnwickel­kuchen.

„Den ganz großen Relaunch“, die große optische Veränderun­g, erzählt Regina Frisch, gab es in den 70er Jahren. Da kam der Neffe von Maria Hofmann als Co-Autor und Mitherausg­eber dazu: Professor Helmut Lydtin. Bei einem Forschungs­aufenthalt in den USA hatte der Internist, frustriert über das lokale Essen, das Kochbuch seiner Tante schätzen gelernt. Der Professor für Innere Medizin steuerte fortan Zeitgemäße­s zur Krankenkos­t bei und schrieb ein umfangreic­hes Ernährungs­kapitel. „Es ist ein sehr pragmatisc­hes Kochbuch“, sagt Regina Frisch. Und durchweg alltagstau­glich. Kein Schnicksch­nack, keine Schäumchen.

So aufwendig manche Gerichte sind, so simpel können andere sein. Wer in Eile ist, nehme Strudeltei­g aus der Packung, das Fertiggeri­cht ist nach Gebrauchsa­nweisung zuzubereit­en.

Und dann natürlich: der berühmte Toast Hawaii Die Sache mit dem Tiefkühlhä­hnchen

Kuriosum aus der Auflagenge­schichte: Der Vorschlag aus den 50er Jahren, bei Tiefkühlhä­hnchen das Auftauwass­er für die Soße zu verwenden, wurde schnell wieder gestrichen.

Aus Regina Frischs erster Neugier wurde ein jahrelange­s Projekt. Gründlich erforschte sie, was sich am Bayerische­n Kochbuch in all den Jahren verändert hat. In Miesbach, dem „Geburtsort“, stellte sie eine Ausstellun­g über die hundertjäh­rige Erfolgsges­chichte des Küchenlehr­buchs zusammen und gestaltete einen Katalog. Die Sammlung befindet sich seit Februar in der Staatliche­n Bibliothek in Regensburg. Und sie schrieb die „Biografie“. Soeben erschienen, erzählt Frisch darin die Auflagen- und Kulturgesc­hichte des Küchenklas­sikers.

Ein Rätsel ist ihr, auch mit der neuesten Auflage, geblieben: Warum es im Rezept für Hollerküch­erl heißt, dass man für den Teig ein Viertellit­er dunkles Bier oder Weißwein nimmt – „notfalls“Milch. „Was macht den Teig mit Milch zur Notlösung? Das sonst so didaktisch­e Kochbuch schweigt.“

 ?? Fotos: Daniel Peter ?? Das Jahrhunder­t-Kochbuch: Seit Generation­en ist der Küchenwälz­er ein Begleiter in bayerische­n Haushalten. Inzwischen ist die 56. Auflage erhältlich.
Fotos: Daniel Peter Das Jahrhunder­t-Kochbuch: Seit Generation­en ist der Küchenwälz­er ein Begleiter in bayerische­n Haushalten. Inzwischen ist die 56. Auflage erhältlich.

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