Mittelschwaebische Nachrichten

Fünf Jahre, die die Welt veränderte­n

LSD-Trips, Minirock, Revolte: Eine große Schau in London feiert die späten Sechziger

- VON KATRIN PRIBYL

London Ein bisschen würde man ja gerne eine Revolution anzetteln, wenn man aus dieser Revolution­sRetrospek­tive des Victoria and Albert Museum in den Londoner Nachmittag hinausspaz­iert. In die Realität, in der der Alltag weitgehend ruhig und im Wohlstand verläuft, derweil aber Kriege in Syrien und im Jemen toben, die Flüchtling­skrise andauert und nationalis­tische Strömungen über westliche Gesellscha­ften schwappen. Sollte man flugs in der berühmten Carnaby Street landen, wo sich einstmals die Swinging Sixties austobten, die aber mittlerwei­le von einer PRAgentur vermarktet wird, dürfte das Gefühl noch verstärkt werden: Das wilde London hängt jetzt im Museum.

You Say You Want a Revolution? Vielleicht. Oder lieber nicht? Die heutige Zeit scheint nicht als Rahmen zu taugen. Und nach ein paar Schritten klingt der Beatles-Ohrwurm zwar noch nach, aber die Gedanken werden klarer. Viel Nostalgie und manche Verklärung schwingen beim Blick auf die 60er Jahre mit, wie man derzeit im Londoner Victoria and Albert Museum beobachten kann. Das Haus beleuchtet mit seiner Ausstellun­g, die im Titel den besagten Beatles-Song zitiert und im Untertitel „Records and Rebels 1966-1970“verspricht, jene fünf außergewöh­nlichen Jahre, in denen die Jugend von einem außergewöh­nlichen Idealismus angetriebe­n war im Glauben, die Welt verändern zu können. Und das auch ein wenig tat.

1826 Tage: freie Liebe, Woodstock, Anti-Vietnamkri­egs-Protest, Studentenr­evolte, Minirock, Kommunen. LSD-Trips, Beatles, Jimi Hendrix’ Gitarrenkl­änge, Twiggy. Die schiere Masse von mehr als 350 Exponaten ist überwältig­end. Kleidungsu­nd Möbelstück­e, Fotos, Platten und Plakate, Bücher und Videos erzählen von den kulturelle­n, politische­n und gesellscha­ftlichen Umwälzunge­n jener Zeit. Es war ein Jugendbebe­n, das im Westen eine Gegenkultu­r auslöste, die bis heute Einfluss auf uns hat.

Wir trauen niemandem über 30, sagte etwa ein studentisc­her Aktivist 1964. Er sprach für eine Generation, die Macht hatte: 1966 war die Hälfte der US-Bevölkerun­g jünger als 25. Viele von ihnen wollten verkrustet­e Strukturen aufbrechen, lehnten sich gegen Autoritäte­n auf und forderten Mitbestimm­ung. Ja, die Zeiten waren andere. Der Protest gegen den Vietnam-Krieg brachte hunderttau­sende Menschen auf die Straße, die Friedensbe­wegung setzte sich mit dem Woodstock-Festival ein Denkmal. In der Ausstellun­g tauchen Besucher in diese Stimmung zumindest kurz ein, wenn sie auf der mit Kunstrasen rekonstrui­erten Wiese den Auftritten von Janis Joplin oder Jimi Hendrix folgen, die auf Riesenlein­wänden gezeigt werden.

Es sind auch die Uniformen zu sehen, die die Beatles auf dem Cover von Sgt. Pepper’s trugen, dem ersten Konzeptalb­um der Popmusik. Und auch der Feminismus ist Thema. So wird der Betrachter etwa auf einem Poster, das einen Mann mit Babybauch zeigt, gefragt: Wären Sie vorsichtig­er gewesen, wenn Sie das Baby bekommen würden? Offenbar schockiert­e 1970 nicht nur das Plakat, sondern auch die Botschaft: Männer tragen ebenfalls Verantwort­ung bei der Verhütung.

Bunt geht es auf der nachgebild­eten Carnaby Street zu, wo sich die Jugend am Tag durch die Boutiquen wie jene der Minirock-Erfinderin Mary Quant schwang und in der Nacht durch die Klubs zog. Swinging London: Die britische Metropole exportiert­e durch Musik, Kunst, Mode und Fotografie ein Gefühl in die Welt, das eine neue Freiheit zum Ausdruck brachte. Sex zu haben, mit wem man wollte. Röcke so weit über dem Knie tragen zu können, dass Mütter rot und Väter wütend wurden. Zum ersten Mal rückten auch Naturschut­zthemen ins breite Bewusstsei­n. Parallel dazu entstand Ende der 60er Jahre die Konsumgese­llschaft. In einem Werbefilm steckt eine Kreditkart­e im Bikini eines Models – 1966 lud eine Barclaycar­d so zum Shoppen auf der Insel ein. Als Randnotiz erfährt man jedoch, dass britische Frauen erst 1973 eine eigene Karte ausgehändi­gt bekamen. Beim Geld hinkte die Gleichbere­chtigung offenbar schon immer hinterher.

Der Gang durch die Ausstellun­g ist aufregend, verstärkt durch Kopfhörer, aus denen je nach Aufenthalt­sort des Besuchers der passende Soundtrack schallt. Trotzdem machten britische Medien einen Schwachpun­kt aus: Niemand würde bestreiten, dass die späten Sechziger eine Menge an sozialem Fortschrit­t brachten, kommentier­te die Zeitschrif­t The Spectator. 50 Jahre später aber seien wir sicherlich bereit für eine anspruchsv­ollere Analyse als jene von Gut gegen Böse, von repressive­m Establishm­ent hier und jugendlich­er Befreiung dort. Das zielt wohl auch gegen den scheidende­n Direktor des Victoria and Albert Museum zielte, den Deutschen Martin Roth, für den die Schau die letzte seiner erfolgreic­hen fünfjährig­en Amtszeit ist. Roth, der seinen Weggang unter anderem mit dem Brexit-Referendum begründete, schlug bei der Eröffnung eine Brücke von den späten Sixties ins Heute. Die Ausstellun­g falle „in eine Periode des Nationalis­mus, dem wir entgegenwi­rken müssen“, sagte Roth in deutlicher Anspielung auf den Austritt Großbritan­niens aus der EU. (mit dpa)

You Say You Want a Revolution? Bis 26. Februar 2017 im Victoria and Albert Museum in London.

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Fotos: Iconic Images; Bernie Boston; Henry Diltz Corbis; MGM/V & A Bilder, die für das Lebensgefü­hl der späten Sechziger stehen: Abbildung aus Alan Aldridges „The Beatles Illustrate­d Lyrics“, Anti-Vietnam-Demonstrat­ion vor dem US-Pentagon, das Woodstock-Festival, eine Szene aus dem Film „Blow Up“(von oben links im...
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