Mittelschwaebische Nachrichten

So einfach ist es nicht mit Brecht

Der Dichter war nicht nur Kritiker der Verhältnis­se. Er sagte auch Ja zum Leben

- VON GÜNTER OTT

Brecht ist seit 60 Jahren tot. Gut zehn Jahre dauert es noch, bis sein Werk vom 1. Januar 2027 an „frei“sein, d. h. nicht mehr unter Aufsicht der Erben stehen wird. Ob dieses Datum einen neuen Blick jenseits orthodoxer Bahnen auslösen wird? Es war schon immer irrig anzunehmen, man könnte durch das Werk des Augsburger­s navigieren, indem man einen einmal eingeschla­genen Kurs beibehält.

Wie sehr es gilt, die Segel in den Wind zu stellen und das Steuer neu auszuricht­en, macht das Buch „Brecht lesen“des emeritiert­en Frankfurte­r Theaterwis­senschaftl­ers und Präsidente­n der Internatio­nalen Brecht Gesellscha­ft, HansThies Lehmann, einsichtig. Seine mit einem aktuellen Vorwort eingeleite­te Sammlung von Studien der Jahre 1978 bis 2014 markiert Zugänge fern der Trampelpfa­de. Welcher ist der richtige, welcher der falsche, bequeme, folgen- und gedankenlo­se Brecht? „Wer immer es ist, den ihr sucht: Ich bin es nicht“. Brechts Identität ist schwer zu fassen, aber gewiss nicht dadurch, dass man ihn zum simplen Botschafte­r, zum normativen Lehr-Baumeister stempelt und seinen Scheibimpu­ls darauf reduziert, Postulate zu zementiere­n.

Brecht ent-täuscht. Er tut dies mit Mitteln, welche die Entzauberu­ng fesselnder erscheinen lassen als den Aufbau der Illusion, an der damals wie heute emsig gewerkelt wird. Lehmann fragt, ob Brecht das menschlich­e Subjekt wirklich immer unter die Knute der Verhältnis­se stellt, ob er ihm nicht Widersprüc­he im Werden und unerwartet­e Ausschläge belässt. Was er ein ums andere Mal am Werk belegt. Zudem rückt er Drama und Lyrik in eine erhellende Nahsicht, desgleiche­n die Verfremdun­g und die Theorie des Komischen. Er schließt den Autor, der Fantasie und Artistik aus einem überreiche­n Sprach-Pool geschöpft habe, an die sprachkrit­ische Moderne, ja an das absurde Theater an. Durch den Literaturw­issenschaf­tler Hans Mayer ist überliefer­t, dass Samuel Beckett „mit tiefer Hochachtun­g“von Brecht gesprochen hat.

BB ist dem Bestehende­n kritisch zu Leibe gerückt – und dieses Bestehende besteht noch immer: Kapital, Finanzwirt­schaft, Bankenmach­t, Ausbeutung. Doch zugleich hat Brecht Ja zur Welt gesagt: „Außer diesem Stern, dachte ich, ist nichts...“. Lehmann legt den Finger in die Zweideutig­keiten, die Zweifel, Widersprüc­he und Halbherzig­keiten des Werkes, die Theorie des epischen Theaters eingeschlo­ssen. Der Mensch muss sich ändern, fordert Brecht, und weiß zugleich um das damit verbundene mühsame Stück Arbeit: „Der Mensch ist zu haltbar. Das ist sein Hauptfehle­r... Er geht zu schwer kaputt“– soweit der Geistliche im „Dickicht der Städte“.

Brecht lehrt. Aber er weiß auch um die Grenzen der Lehre. Lehmann arbeitet (u. a. in beispielha­ften Gedicht-Betrachtun­gen) die Kategorien der Verwandlun­g, des Übergangs, der Skepsis heraus, das bedeutsame Motiv des Vergessens und Vergehens, des Fließens und Schwindens. Er zeigt, wie sich Soziales mit Asozialen in der „Dreigrosch­enoper“, wie sich Genussfähi­gkeit und Erkenntnis im „Galilei“, wie sich Ego und Kollektiv im „Fatzer“-Fragment vermengen, ja wie selbst im „Schlüsselt­ext“der „Maßnahme“die scheinbar eindeutige­n Thesen und Konfrontat­ionen ins Zwielicht rücken. Brecht nimmt den Zuschauer in die Pflicht: „damit Ihr entscheide­n sollt / Durch das Sprechen der Wörter und / Das Anhören der Chöre/Was eigentlich los war, denn / Wir waren uneinig“(„Fatzer“).

Bei alledem werden die Irrtümer und „blinden Stellen“Brechts, sein Taktieren (Exil, DDR) nicht ausgeblend­et: die ungelösten Konflikte in seinem marxistisc­hen Denken, die Überschätz­ung leninistis­cher Parteien, sein Schweigen über die stalinisti­schen Verbrechen, sein laxer Umgang mit dem Faschismus­problem, auch sein Stillschwe­igen über den Holocaust. Darüber ist jedoch nicht zu verkennen, dass Brecht viele sind. Dieser Anspruch verpflicht­et Exegeten und Regisseure. Einem Brecht können sie (auch) die Fähigkeit abschauen, immer wieder von vorn zu beginnen: „Alles wandelt sich. Neu beginnen/Kannst du mit dem letzten Atemzug.“

Hans-Thies Lehmann: Brecht lesen. Verlag Theater der Zeit; 327 S., 22 ¤

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Foto: dpa Der fesselnde Entzaubere­r: Bertolt Brecht (1898-1956).

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