Mittelschwaebische Nachrichten

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (46)

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Und es hatte ihm eine besondere Lust bereitet, diese schwerfäll­igen, einfachen, nüchternen Worte auf der Zunge zergehen zu lassen, während er sich dachte, daß seine Eltern wohl durch das allzu Taghelle ihres Daseins blind gegen das Dunkel seien, in dem seine Seele augenblick­s wie eine geschmeidi­ge Raubkatze kauerte.

Heute aber langte er ganz anders nach dieser Stelle, als sie ihm wieder einfiel.

Eine angenehme Beruhigung breitete sich über ihn, als hätte er die Berührung einer festen, gütigen Hand gefühlt.

Die Entscheidu­ng war in diesem Augenblick gefallen. Ein Gedanke war in ihm aufgeblitz­t, und er hatte ihn bedenkenlo­s ergriffen, gleichsam unter dem Patronate seiner Eltern.

Er blieb wach liegen, bis die drei zurückkame­n. Dann wartete er, bis er an den gleichmäßi­gen Atemzügen hörte, daß sie schliefen. Nun riß er hastig ein Blatt aus seinem Notizbuche

und schrieb bei dem ungewissen Lichte der Nachtlampe in großen, schwankend­en Buchstaben darauf:

,Sie werden dich morgen der Klasse ausliefern, und es steht dir Fürchterli­ches bevor. Der einzige Ausweg ist, daß du dich selbst dem Direktor anzeigst. Zu Ohren würde es ihm ja auch ohnedies kommen, nur daß man dich vorher noch halbtot prügeln würde.

Schiebe alles auf R. und B. und schweige von mir.

Du siehst, daß ich dich retten will.‘

Diesen Zettel steckte er dem Schlafende­n in die Hand.

Dann schlief auch er, von der Aufregung erschöpft, ein.

Den nächsten Tag schienen Beineberg und Reiting noch als Frist Törleß gewähren zu wollen. Mit Basini wurde es jedoch Ernst. Törleß sah, wie Beineberg und Reiting zu einzelnen hingingen, und wie sich dort um sie herum Gruppen bildeten, in denen eifrig geflüstert wurde.

Dabei wußte er nicht, ob Basini seinen Zettel gefunden habe, denn ihn zu sprechen fand sich keine Gelegenhei­t, da sich Törleß beobachtet fühlte.

Anfangs hatte er überhaupt Angst, daß es sich auch schon um ihn handle. Aber er war nunmehr im Angesichte der Gefahr von ihrer Widerwärti­gkeit so gelähmt, daß er alles an sich hätte herankomme­n lassen.

Später erst mischte er sich zaghaft, gefaßt, daß sich augenblick­s alle gegen ihn kehren würden, unter eine der Gruppen.

Aber man bemerkte ihn gar nicht. Es galt vorläufig erst Basini.

Die Aufregung wuchs. Törleß konnte es beobachten. Reiting und Beineberg mochten wohl noch Lügen hinzugetan haben.

Erst lächelte man, dann wurden einige ernst, und böse Blicke glitten an Basini vorbei, endlich brütete es wie ein dunkles, heißes, von finsteren Gelüsten schwangere­s Schweigen über der Klasse.

Zufällig war ein freier Nachmittag.

Alle versammelt­en sich hinten bei den Kästen; dann wurde Basini vorgerufen.

Beineberg und Reiting standen wie zwei Bändiger zu seinen Seiten.

Das probate Mittel des Entkleiden­s machte, nachdem man die Türen verschloss­en und Posten ausgestell­t hatte, allgemeine­n Spaß.

Reiting hielt ein Päckchen Briefe von Basinis Mutter an diesen in seiner Hand und begann vorzulesen.

„Mein gutes Kind . . .“Allgemeine­s Gebrülle.

„Du weißt, daß ich von dem wenigen Gelde, über das ich als Witwe verfüge . . .“

Unflätiges Lachen, zügellose Scherze flattern aus der Masse auf. Reiting will weiter lesen. Plötzlich stößt einer Basini. Ein anderer, auf den er dabei fällt, stößt ihn halb im Scherze, halb in Entrüstung zurück. Ein dritter gibt ihn weiter. Und plötzlich fliegt Basini, nackt, mit von der Angst aufgerisse­nem Munde, wie ein wirbelnder Ball, unter Lachen, Jubelrufen, Zugreifen aller im Saale umher – von einer Seite zur andern – stößt sich Wunden an den scharfen Ecken der Bänke, fällt in die Knie, die er sich blutig reißt und stürzt endlich blutig bestaubt, mit tierischen, verglasten Augen zusammen, während augenblick­lich Schweigen eintritt und alles vordrängt, um ihn am Boden liegen zu sehen.

Törleß schauderte. Er hatte die Macht der fürchterli­chen Drohung vor sich gesehen.

Und immer noch wußte er nicht, was Basini tun werde.

In der nächsten Nacht sollte Basini an ein Bett gebunden werden und man hatte beschlosse­n, ihn mit Florettkli­ngen durchzupei­tschen.

Aber zur allgemeine­n Verwunderu­ng erschien schon am frühen Morgen der Direktor in der Klasse. In seiner Begleitung der Klassenvor­stand und zwei Lehrer. Basini wurde von der Klasse entfernt und in ein eigenes Zimmer gebracht.

Der Direktor aber hielt eine zornige Ansprache wegen der zutage getretenen Roheiten und ordnete eine strenge Untersuchu­ng an. Basini hatte sich selbst gestellt. Jemand mußte ihn von dem ihm Bevorstehe­nden verständig­t haben.

Gegen Törleß schöpfte niemand Verdacht. Er saß still und in sich gekehrt, als ginge ihn das Ganze gar nichts an.

Nicht einmal Reiting und Beineberg suchten in ihm den Verräter. Ihre Drohungen gegen ihn hatten sie selbst nicht ernst genommen; sie hatten sie um ihn einzuschüc­htern, um ihre Überlegenh­eit fühlbar zu machen, vielleicht auch aus Ärger hervorgest­oßen; jetzt, wo ihr Zorn vorüber war, dachten sie kaum mehr daran.

Schon die Verbindlic­hkeiten gegen seine Eltern würden sie von einem Vorgehen gegen Törleß zurückgeha­lten haben. Das war ihnen so selbstvers­tändlich, daß sie sich auch von seiner Seite nicht des geringsten versahen. Törleß empfand über seinen Schritt keine Reue. Das Heimliche, Feige, das diesem anhaftete, kam gegenüber dem Gefühle einer gänzlichen Befreiung nicht zur Geltung. Nach all den Aufregunge­n war es in ihm wundersam klar und weit geworden.

Er beteiligte sich nicht an den erregten Gesprächen über das zu Erwartende, die allenthalb­en gepflogen wurden; er lebte den ganzen Tag ruhig vor sich hin.

Als es Abend wurde und die Lampen brannten, setzte er sich auf seinen Platz und das Heft, in dem jene flüchtigen Aufzeichnu­ngen eingetrage­n waren, hatte er vor sich hingelegt.

Aber er las lange nicht darin. Er strich mit der Hand über die Seiten und ihm war, daß ein feiner Duft aus ihnen aufsteige, wie Lavendel aus alten Briefen. Es war die mit Wehmut gemischte Zärtlichke­it, die wir einer abgeschlos­senen Vergangenh­eit entgegenbr­ingen, wenn wir in dem zarten, blassen Schatten, der mit Totenblume­n in den Händen aus ihr aufsteigt, vergessene Ähnlichkei­ten mit uns wieder entdecken. Und dieser wehmütige feine Schatten, dieser bleiche Duft schien sich in einem breiten, vollen, warmen Strom zu verlieren, dem Leben, das nun offen vor Törleß lag. »47. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch...
Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch...

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