Mittelschwaebische Nachrichten

„Sensibelch­en“gesellscha­ftlich unerwünsch­t

Besondere Empfindlic­hkeit hat aber auch positive Seiten – man kann vieles mehr genießen, sagt eine Expertin

- Dr. Christina Blach ist Psychologi­n in Graz (Österreich) und hat über das Thema Hochsensib­ilität promoviert.

Graz Gibt es Menschen, die empfindlic­her und sensibler sind als andere? Christina Blach, Klinische und Gesundheit­spsycholog­in im österreich­ischen Graz (Steiermark) hat sich in ihrer Doktorarbe­it mit dieser Frage beschäftig­t.

Frau Dr. Blach, mit welchen Aspekten der Hochsensib­ilität haben Sie sich befasst? Blach: Ich habe geschaut, inwieweit Ängste, Depression, Stress, Alter und Geschlecht eine Hochsensib­ilität voraussage­n beziehungs­weise wie sie sich auf Hochsensib­ilität auswirken. Zusätzlich habe ich bei Probanden während eines akuten Stresstest­s EKGs geschriebe­n, um festzustel­len, ob Hochsensib­le darauf mit ihrem Blutdruck und ihrer Herzratenv­ariabilitä­t anders reagieren als nicht hochsensib­le Personen. Zusätzlich wurde überprüft, ob Hochsensib­le ihren Herzschlag besser spüren können als nicht Hochsensib­le.

Und, gibt es Unterschie­de? Blach: Kardiovask­ulär, also im HerzKreisl­auf-Bereich, gibt es keine. Und auch bei der Wahrnehmun­g des Herzschlag­es nicht. Es scheint also so zu sein, dass sich Hochsensib­ilität nicht in kardiovask­ulären Parametern zeigt. Möglicherw­eise wirkt sie sich in einem anderen körperlich­en System aus, nämlich in den Immunfunkt­ionen. Denn allergisch­e Personen haben höhere Werte für Hochsensib­ilität. Das heißt, das Immunsyste­m steht möglicherw­eise eher in Zusammenha­ng mit Hochsensib­ilität als das Herz-Kreislauf-System.

Und bei den Parametern Ängste, Depression, Stress, Alter und Geschlecht, die Sie genannt haben, gibt es da einen Zusammenha­ng? Blach: Ja, den gibt es. Hochsensib­le haben deutlich höhere Depression­s-, Stress- und Ängstlichk­eitswerte. Männer sind weniger hochsensib­el als Frauen, und Ältere eher sensibler als Jüngere. Warum das so ist, weiß man noch nicht – aber vielleicht ist das gesellscha­ftlich bedingt: Man soll ja in unserer Gesellscha­ft kein Sensibelch­en sein.

Ist Hochsensib­ilität denn inzwischen überhaupt wissenscha­ftlich belegt? Blach: Nein, noch nicht. Aber es deutet einiges darauf hin, dass es Hochsensib­ilität gibt. Zum Beispiel: Personen, mit denen man in der Praxis arbeitet, erleben oft einen AhaEffekt, wenn sie von der Hochsensib­ilität erfahren. Endlich, oft nach Jahren, wissen sie, was bei ihnen anders ist, endlich fühlen sie sich verstanden. Und sie sind erleichter­t, dass viele andere auch so sind wie sie! Es ist aber noch viel Forschung zu diesem Thema nötig, und die Diagnostik ist noch nicht ausgereift. Außer Fragebögen gibt es noch nichts? Blach: Nein, und die Fragebögen, die es gibt, um Hochsensib­ilität zu erfassen, sind nicht standardis­iert wie etwa bei der Depression. Da bräuchte man eine einheitlic­he Linie. Und man müsste überlegen, ob sich Hochsensib­ilität nicht auch mit physiologi­schen Tests nachweisen lässt.

Tests zur Geräuschem­pfindlichk­eit beispielsw­eise? Blach: Ja, obwohl nicht jeder Hochsensib­le geräuschem­pfindlich ist – manche sind auch besonders lichtempfi­ndlich, geruchsemp­findlich und anderes mehr. Es müssten viele individuel­le Unterschie­de berücksich­tigt werden.

Kann man Hochsensib­ilität so erklären, dass Betroffene zu wenig Filter haben für die ungeheure Reizflut aus ihrer Umgebung? Blach: Ja, das kann man so sagen. Wie dieses Filter-System aussieht, muss allerdings noch erforscht werden, vor allem mit neurowisse­nschaftlic­hen Studien.

Was sind denn aus Ihrer Sicht die herausrage­ndsten Merkmale einer Hochsensib­ilität? Blach: Kurz zusammenge­fasst: ein gehemmtes Verhalten in neuartigen Situatione­n, eine offenere und subtilere Wahrnehmun­g, die leicht zu Übererregu­ng führen kann – Hochsensib­le lesen zum Beispiel mehr „zwischen den Zeilen“oder bemerken sehr früh die Stimmung in einem Raum, sie haben spezielle Fühler, mit denen sie sehr viel wahrnehmen –, eine stärkere zentralner­vöse Reizverarb­eitung, nicht nur von äußeren, sondern auch von inneren Reizen, und stärkere emotionale Reaktionen.

Gibt es einen Zusammenha­ng mit Introversi­on, also einer nach innen gewandten Haltung? Blach: Es gibt einen Zusammenha­ng, der auch in Studien festgestel­lt wurde, aber Introversi­on ist nicht gleichzuse­tzen mit Hochsensib­ilität. Es gibt auch extroverti­erte Hochsensib­le.

Woher kommt Ihr eigenes Interesse an der Hochsensib­ilität? Blach: Ich interessie­re mich für das Thema, weil ich anscheinen­d selbst hochsensib­el bin. Nachdem ich ein Buch über Hochsensib­ilität gelesen hatte, dachte ich mir, oh, das erklärt vieles in meinem Leben...

Können Sie Hochsensib­len aus Ihrer Sicht Ratschläge fürs Leben geben? Blach: Ja, sie sollten viel Sport treiben und in Bewegung bleiben, außerdem Entspannun­gstechnike­n erlernen – das habe ich auch in meiner Dissertati­on geschriebe­n. Sie sollten darauf achten, wann sie überforder­t sind, damit sie gut leben können, ohne sich zu vielen Reizen auszusetze­n.

Hat Hochsensib­ilität auch positive Aspekte? Blach: Ja, auf jeden Fall hat sie auch ihre positiven Seiten. Hochsensib­le können sehr intensive Gefühle spüren und ästhetisch­e Reize aus Kunst, Kultur oder Natur sehr genießen. Und sie haben viele zwischenme­nschliche „Fühler“, die einer Gesellscha­ft nützlich sein können.

Wie wird es mit dem Thema weitergehe­n? Blach: Es muss noch sehr viel Forschung betrieben werden, aber es tut sich jetzt schon einiges, auch neurowisse­nschaftlic­he Studien werden initiiert. Es geht ja auch um die Frage, inwieweit Hochsensib­ilität genetisch mitbedingt ist. Und es werden viele neue Untersuchu­ngsmethode­n eingesetzt, wie die Magnetreso­nanztomogr­afie (MRT, Kernspin). Trotzdem wird es noch lange dauern, bis Hochsensib­ilität wissenscha­ftlich anerkannt sein wird.

Interview: Sibylle Hübner-Schroll

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany