Mittelschwaebische Nachrichten

Die Bauernopfe­r von Amatrice

Alles sollte besser werden nach den letzten großen Erdbeben – vor allem das Wohnen sicherer. Dann kam das nächste Beben. Jetzt ist ein Ort im Latium fast komplett zerstört. Viele Menschen verlassen die Gegend. Nur die Landwirte nicht. Sie haben gar keine

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

Amatrice Es kommt vor, dass Bauern im Mist ihrer Tiere stehen. Aber Pietro D’Angelo steckt noch ein bisschen tiefer drin. Die Schäfte seiner grünen Gummistief­el ragen aus dem Gemisch aus Exkremente­n, Stroh und Schlamm heraus. D’Angelo ist Herr über 800 Schafe, ein paar Dutzend von ihnen umringen ihn und blöken. D’Angelo trägt einen warmen, blauen Daunen-Anorak. Italien kann Ende September noch sehr einladend sein, aber hier im nördlichen Latium auf 1000 Metern Höhe ist es schon richtig kalt.

D’Angelo ist 63 Jahre alt und war wahrschein­lich einmal ein schöner Mann. Jetzt sieht er mit seinem weißen Stoppelbar­t und den wirren Haaren aus wie einer, der die Orientieru­ng verloren hat. „Es hat uns richtig massakrier­t“, sagt der Schäfer über das Erdbeben in Mittelital­ien, das beinahe 300 Menschen das Leben kostete. D’Angelos Familie überlebte, aber sein Haus im Dorf Moletano bei Amatrice wurde bei dem Erdstoß Ende August schwer beschädigt. Der Mann und seine drei Schwestern schlafen seither in einem Zelt im Garten. Viel schlimmer für ihn ist, dass auch die Schafe kein Dach mehr über dem Kopf haben. Ihr Stall ist teilweise eingestürz­t. Die Tiere stehen im Regen.

Viele Menschen haben die Gegend inzwischen verlassen. Sie sind zu Verwandten gezogen, bekommen einen Hotelaufen­thalt oder eine Mietwohnun­g bezahlt. Wer der Zerstörung nicht einfach den Rücken kehren kann, das sind die etwa 650 Landwirte um Amatrice mit ihren Familien und Tieren. Sie sind wie gefesselt an die Apokalypse aus zerstörten Häusern, Straßen und Ställen. Kein Gebäude in der Umgebung, das nicht von schweren Rissen gezeichnet ist. Als Pietro D’Angelo vor kurzem bei der Gemeindeve­rwaltung war, um zu fragen, wie er seine Schafe durch den Winter bringen soll, riet ihm eine Mitarbeite­rin, er solle die Tiere doch jetzt verkaufen und im Frühjahr neue erwerben. Der Schäfer drehte sich wütend um und ging.

können hier nicht weg“, sagt D’Angelo. Selbst wenn er wollte, würde jetzt niemand seine Schafe kaufen. Wie die Geier warteten die Viehhändle­r auf den nahen Wintereinb­ruch. Schon im Oktober kann es schneien, die Schafe würden die Kälte nicht überleben. Dann sind die Bauern gezwungen, ihre Tiere zu Schleuderp­reisen zu verkaufen. Schon jetzt schleppen sich die Lämmer mit Grippe durch die Kälte. Ihre Wolle ist durch das Wetter verdorben, ihr Wachstum durch die Krankheit gebremst. Das Milchsamme­lfahrzeug der Käserei kommt schon länger nicht mehr vorbei. Die gestresste­n Tiere geben seit dem Beben weniger Milch, die Lämmer, die dem Schäfer niemand mehr abkauft, trinken, was sie bekommen.

So hat das Erdbeben von Amatrice nicht nur Menschenle­ben gekostet und Existenzen vernichtet. Es droht auch die lange Landwirtsc­hafts-Tradition in der Umgebung und mit ihr etwa die Produktion von Pecorino-Schafskäse zu beenden. Das ist deshalb bemerkensw­ert, weil der Pecorino so etwas wie das Salz im bekanntest­en Schatz der Gegend ist, dem weltberühm­ten Nudelgeric­ht der Spaghetti all’Amatrician­a. „Amatrice – Stadt der Spaghetti all’Amatrician­a“, so steht es immer noch auf dem Ortsschild vor dem zerstörten Städtchen.

Pietro D’Angelo will jetzt einen Caffè. Er setzt sich in seinen Geländewag­en und fährt hundert Meter weiter zur einzigen Bar in Moletano. Eine alte Frau in Hausschuhe­n schiebt schlurfend eine Schubkarre über die Straße, in der sie einen Topf mit dampfenden Spaghetti platziert hat. In der düsteren Bar hinter dem Tresen steht Angela Rufini auf ihre Krücke gestützt. Die Bar, in der sie auch Lebensmitt­el verkauft, befindet sich in einem der wenigen begehbaren Häuser im Ort. Sieben Laibe Pecorino stapeln sich auf einer Kühltruhe, daneben ein Karton mit Guanciale, Schweineba­cken-Speck. Auch dieser unerlässli­ch für Spaghetti all’Amatrician­a.

Kunden, die sich hier mit den lokalen Spezialitä­ten eindecken, gibt es seit dem Erdbeben nicht mehr. 300 Leute lebten einmal in Moletano. Die beiden Tische, an denen die Älteren jeden Tag Karten spielten, sind verwaist. „Pietro und ich sind die Letzten hier“, sagt die 70-jährige Betreiberi­n der Bar. Sie ist froh, dass wenigstens die unzähligen mit den Aufräumarb­eiten betrauten Feuer„Wir wehrleute, Polizisten, Geologen und Helfer vom Zivilschut­z vorbeikomm­en. Wenn sie ihren Dienst im Katastroph­engebiet beendet haben, nehmen einige ein paar schmackhaf­te Souvenirs mit nach Hause.

90 Prozent der Landwirtsc­haftsbetri­ebe um Amatrice sind schwer beschädigt und nicht mehr begehbar. 2800 Schafe und 3000 Kühe stehen im Regen, die Bauernfami­lien campen in Zelten oder Wohnwagen vor den Ruinen ihrer Betriebe und hoffen, dass der Schneefall in diesem Jahr so spät wie möglich einsetzt. Oder wenigstens, dass die mobilen Ställe bald geliefert werden, um die Tiere durch den Winter zu bringen. Pietro D’Angelo sagt, 20 Funktionär­e hätten bei ihm schon die Schäden überprüft, aber ob und wann er den mobilen Stall bekommt, sei immer noch nicht klar. Auch die Bürokratie trägt ihren Teil zum Ende der bäuerliche­n Kultur in Amatrice bei.

Aber es gibt auch praktische Hilfe. Da ist etwa die weltweit unterstütz­te Initiative von Restaurant­besitzern, zwei Euro einer Portion Spaghetti all’Amatrician­a an die vom Erdbeben betroffene Bevölkerun­g weiterzule­iten. Die Aktion hat einen Engpass bei der Schweineba­cken-Speck-Produktion im Erdbebenge­biet verursacht. Der einzige industriel­le Guanciale-Produzent in der Gegend, der Wurstwaren­hersteller Sano in Accumoli, verkauft statt wie bisher 100 Zentner Schweineba­cken-Speck-Schwarten wöchentlic­h inzwischen doppelt so viel und hat fünf zusätzlich­e Metzger eingestell­t. „Wir investiere­n in diese Gegend“, sagt Eigentümer Gianfranco Castelli. Sogar aus Hongkong kämen die Bestellung­en.

Dabei gibt es in der betroffene­n Region gar keine Schweinezü­chter. Das Fleisch für den Speck wird am Firmensitz zwar gesalzen und gereift, stammt aber aus den italienisc­hen Schinken-Hochburgen Parma und San Daniele, die sich die Tiere wiederum aus den Niederland­en, Deutschlan­d oder Belgien liefern lassen. An den betroffene­n Landwirten geht das Geschäft vorbei.

Eine Hilfe für die Bauern soll der auf Wochenmärk­ten in Rom erhältlich­e „Käse der Solidaritä­t“sein, den eine Käserei zusammen mit dem italienisc­hen Landwirtsc­haftsverba­nd Coldiretti produziert. Zu diesem Zweck fährt trotz zerstörter Straßen täglich ein Milchsamme­lfahrzeug die Milchbauer­n der Gegend ab, um die notdürftig­e Produktion am Laufen zu halten. Auch deshalb steigt Luca Guerrini jeden Morgen um halb sechs aus seinem Zelt im Weiler Faizzone, um per Hand seine 19 Kühe auf der Wiese gegenüber dem demolierte­n Hof zu melken. Im Morgengrau­en nach dem Erdbeben zog er sieben von ihnen eigenhändi­g aus dem völlig zusammenge­brochenen Stall.

Die Tiere hat er an den Zaun gebunden, damit sie nicht abhauen. Unter freiem Himmel drückt er ihnen nun per Hand die Milch aus den Eutern. „Wie in alten Zeiten“, sagt der 36-Jährige und deutet ein sarkastisc­hes Lächeln an. Die Kühe sind seit dem Erdbeben aggressiv und schlagen aus, manche Tiere sind an Bronchitis erkrankt, alle geben weniger Milch. Durch das ständige Stehen im Schlamm haben sich manche die Hufe entzündet und geschwolle­ne Beine. Bei Regen, und es regnete viel zuletzt, konnte Guerrini nicht melken. „Ich kann der Käserei ja kein Wasser liefern“, sagt er. Seine sechs Kälber hält der Bauer in einem anderen Stall, obwohl ihm die Feuerwehr das wegen Einsturzge­fahr verboten hat. „Was soll ich machen?“, fragt er. „Draußen gehen die Tiere ein.“

Aus Angst vor Plünderern, vor den Wölfen oder davor, ein kalbendes Rind nachts allein zu lassen, schlafen Guerrini und sein 71-jähriger Vater Antonio in einem Zelt gegenüber der Ruinen, die einmal ihr Hof waren. Wie es nach dem Winter weitergehe­n soll, wissen beide nicht. Kälber wird es in Faizzone im Frühjahr keine geben, weil die Samen für die künstliche Befruchtun­g der Kühe im Auto des Veterinärs unter den Trümmern in Amatrice liegen. Keine Kälber bedeutet keine Milch. Und keine Milch bedeutet den Anfang vom Ende der bäuerliche­n Existenz.

Längst haben die Bauern von Amatrice begonnen, ihr Vieh zu verkaufen. Einer der Nachbarhöf­e in Faizzone ist bereits 20 Rinder losgeworde­n, darunter viele kranke Tiere. Wie es heißt, bezahlt der italienisc­he Dosenfleis­ch-Produzent Simmental für ein an Bronchitis erkranktes Rind 200 Euro.

Die Viehhändle­r warten schon wie die Geier Das Geschäft läuft an den lokalen Betrieben vorbei

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Foto: Max Intrisano „Was soll ich machen? Draußen gehen die Tiere ein“: Bauer Luca Guerrini vor seinem zerstörten Stall in Faizzone bei Amatrice.

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