Mittelschwaebische Nachrichten

Auf den Wegen der Schmuggler

Um zu überleben, mussten sie wilde Flüsse und steile Felsen überwinden. Heute sind auf der grünen Grenze der Franche Comté Wanderer unterwegs /Von Alexandra Schneid

-

Nachts, immer wenn der Vollmond genügend Licht spendete, machten sich die Schmuggler auf den Weg. Sie schlichen durchs Gebüsch, wateten durch Flüsse und kletterten auf Felsen. Heimlich brachten sie Streichhöl­zer, Tiere, Absinth oder andere verbotene Waren von der Schweiz nach Frankreich, oder andersheru­m. Auf ihrer Reise lauerten natürliche Gefahren oder Zöllner, die sie ins Gefängnis sperrten. Das Risiko, auf dem Weg zu sterben oder erwischt zu werden, war ihr täglicher Begleiter. Doch die Schmuggler nahmen die Strapazen in Kauf. Vielen blieb nichts anderes übrig. Irgendwie mussten sie ihren Lebensunte­rhalt verdienen.

Lange Zeit war die Region unabhängig, bis sie König Ludwig XIV. annektiert­e. Als die Bürger Abgaben und Steuern zahlen mussten, wurden reisende Händler zu Schmuggler­n. Mit dem Dekret des Sonnenköni­gs änderten sich die Lebensverh­ältnisse dramatisch. Sogar die Frauen waren gezwungen zu schmuggeln, um ihre Familien mit Lebensmitt­eln zu unterstütz­en. Die Zöllner hatten kein Erbarmen: Erwischten sie Schwarzhän­dler, mussten diese nicht nur ihre Waren abgeben, sondern landeten auch im Gefängnis. Sylvie Personeni, die für den Tourismus in der FrancheCom­té zuständig ist, schätzt, dass mehrere tausend Zöllner damals im Einsatz waren.

So arm manche Menschen zur damaligen Zeit waren, so viel hat sich in der Region im Osten Frankreich­s bis heute verändert. Etwa 230 Kilometer lang ist die Landesgren­ze zur Schweiz mit dem Juramassiv. Heute nutzen Wanderer die alten Schmuggler- und Händlerweg­e. Die Franche-Comté hat vier historisch­e Pfade, die „chemins de la contreband­e“, wieder hergericht­et.

Der Weg des reisenden Uhrmachers etwa, des sogenannte­n Orlogeur, führt vom französisc­hen Morteau ins 60 Kilometer entfernte La Chaux-de-Fonds in der Schweiz. Der Wasserfall Saut du Doubs liegt am Weg – und Museen, die sich mit dem Uhrmacherh­andwerk beschäftig­en. Der Begriff Orlogeur hat seinen Ursprung in der Region Franche-Comté. Anfangs reiste der Orlogeur von Hof zu Hof. Seine Aufgabe war es, die Familienuh­ren zu reparieren und richtig einzustell­en. Purer Luxus waren die Uhren damals. Die Familien vererbten die Uhren von Generation zu Generation weiter oder verschenkt­en sie zur Hochzeit. Deshalb riefen die Familien auch den Orlogeur zu sich nach Hause. Die Uhr sollte unter keinen Umständen das Haus verlassen. Doch mit der Zeit wurde auch der Orlogeur zum Schmuggler.

Besonders viele Schmuggler tummelten sich am Wasserfall Saut du Doubs an der Grenze zum Schweizer Kanton Neuenburg. Bei dem Versuch, von dem einen ins andere Land zu gelangen, wurden viele Schmuggler vom Wasser mitgerisse­n. Doch nicht nur mit der feindliche­n Natur hatten die Schmuggler zu kämpfen, im Hinterhalt lauerten die Zöllner. Da halfen nur Tricks oder auch Komplizen, die beispielsw­eise mithilfe einer brennenden Kerze signalisie­rten, dass die Grenze frei war. Solche Geschichte­n erfahren die Wanderer auf kleine Tafeln entlang des Wegs.

Wer nachvollzi­ehen will, wie mühselig der Weg der Kleinschmu­ggler, der Bricottier­s, war, kann vom französisc­hen Maîche 77 Kilometer bis nach La Ferrière in der Schweiz gehen. Dabei kommen die Wanderer auch an den „Echelles de la Mort“, vorbei. Diese „Treppen des Todes“, einen steilen Felsen, mussten die Schmuggler mit großem Gepäck bewältigen. Die Wanderer von heute haben’s leichter, sie erreichen ihr Ziel über eine Eisentrepp­e.

In der Regel waren Frauen und Kinder als Kleinschmu­ggler unterwegs. Nicht mehr als zwei bis drei Kilogramm Ware hatten sie bei sich, hauptsächl­ich Zucker, Kaffee, Schokolade und Streichhöl­zer. Jede Woche wagten sie sich in die Schweiz, um Grundnahru­ngsmittel für die Familie, aber auch für Freunde und Nachbarn zu beschaffen. Als 1816 eine Hungersnot aus- brach, verschärft­e sich die Lage. Als das „Jahr ohne Sommer“ging 1816 in die Geschichte ein. Nässe, Kälte und Frost ruinierten die Ernte, den Bauern starben die Tiere weg. Die Ursache für die kalten Temperatur­en im Sommer war nach neueren Erkenntnis­sen der Ausburch des Vulkans Tambora auf Indonesien. Er schleudert­e Unmengen an vulkanisch­em Material heraus, das die Sonne verdunkelt­e.

Geschmugge­lte Waren wurden noch wichtiger, um das Überleben zu sichern. Frauen nutzten ihre Unterröcke als Versteck oder nähten Taschen und zusätzlich­e Futter in die Kleidung, um Lebensmitt­el zu verbergen. Sie packten sie in hohle Gehstöcke oder Schuhabsät­ze. Manche nutzten auch Hunde, um die Zöllner abzulenken.

Dass es die Obrigkeit auch nicht immer einfach hatte, kann man auf dem Weg der Zöllner, einer 250 Kilometer langen Radrunde zwischen dem französisc­hen Morteau und dem schweizeri­schen Saint-Ursanne, nachempfin­den. Mehr als zehn Stunden am Tag waren die Steuersold­aten, wie die Zöllner oft genannt wurden, im Einsatz. Und sie wurden nicht nur von den Schmuggler­n abgrundtie­f gehasst, sondern auch von der übrigen Bevölkerun­g.

Tag und Nacht inspiziert­en sie Pakete, prüften Fässer und kontrollie­rten verdächtig­e Personen. Hausdurchs­uchungen und Leibesvisi­tationen waren an der Tagesordnu­ng. Doch die Schwarzhän­dler waren ihnen meistens einen Tick voraus. So befestigte­n sie die Schuhsohle­n verkehrt herum an ihren Schuhen, um vorzutäusc­hen, sie liefen in die entgegenge­setzte Richtung.

Viele solcher spannenden Geschichte­n gibt es in einem Handbuch für Wanderer nachzulese­n. Auch jene über den „Colporteur“. Die Dorfbevölk­erung erwartete diesen Hausierer mit großer Ungeduld, brachte er doch nicht nur die neuesten Nachrichte­n und Gerüchte, sondern auch Waren, die er in der Marmotte beförderte. Das war ein Holzkasten, den der „Colporteur“auf dem Rücken trug. Mehr als 20000 Gegenständ­e, darunter Garn, Nadeln, Scheren, Bibeln und Uhren, hatten darin Platz. All die Kleinigkei­ten wogen samt Holzkasten schnell bis zu 40 Kilogramm. Bei den vielen Gegenständ­en verlor man schnell den Überblick. So ließen sich in den Schubladen mit doppeltem Boden leicht auch steuerpfli­chtige oder verbotene Waren wie Tabak, Zucker oder Kaffee schmuggeln.

Neben Tabak, Schokolade und Zucker brachten die Schmuggler auch heimlich den Absinth über die Grenzen, jenes legendäre, grün schillernd­e alkoholisc­he Getränk, das Ende des 18. Jahrhunder­ts im Schweizer Val-de-Travers erfunden wurde. Traditione­ll besteht die „grüne Fee“aus Wermut, Anis, Fenchel und zahlreiche­n anderen Kräutern. Da die Schweiz hohe Ausfuhrzöl­le erhob, zogen einige Schweizer Brennereie­n ins französisc­he Pontarlier, wo im 19. Jahrhunder­t

Im Hinterhalt lauerten die Zöllner. Doch die Komplizen halfen weiter Inspiratio­n durch die „grüne Fee“. Wie der Absinth seinen üblen Ruf verlor

der Absinth industriel­l hergestell­t wurde und sich nach und nach zum Kultgeträn­k entwickelt­e. Um 1900 war Absinth vor allem unter Künstlern beliebt, die sich von der „grünen Fee“Inspiratio­n erhofften.

15 Jahre später wurde Absinth in vielen europäisch­en Ländern verboten, weil er wegen seines ThujonGeha­lts angeblich Wahnvorste­llungen und Krämpfe auslösen und zum Erblinden führen könnte. Thujon ist ein Nervengift, das in erhöhter Dosierung solche Symptome hervorrufe­n kann. Heute werden die damals registrier­ten Krankheite­n eher auf die schlechte Qualität des Absinths und den zu großen Alkoholkon­sum zurückgefü­hrt. Schon damals ließen sich einige Schnapsbre­nnereien im Schweizer Val-deTravers von dem Verbot nicht beeindruck­en: Sie produziert­en weiterhin Absinth und handelten damit. 2005 wurde das Absinth-Verbot auch in der Schweiz wieder aufgehoben. An die Hauptphase des Schmuggels erinnern heute Wege, die von hohem Gras und Gebüsch überwucher­t sind, Wurzeln schlagen über die schmalen Pfade, Steine bohren sich durch die Erde. Hier wanderten einst die Schmuggler entlang. Grenzstein­e markieren, wo Frankreich beginnt und die Schweiz endet. Die Grenzen haben sich im Laufe der Geschichte verändert. Doch eines blieb gleich: Mit den Grenzstein­en konnten die Länder ihr Gebiet klar festsetzen und somit Zollgebühr­en einführen. Nur ein Grund dafür, warum der Schmuggel in der Franche-Comté einst aufgeblüht ist.

 ?? Fotos: Schneid ?? Auf historisch­en Schmuggler­pfaden kann man die grüne Seite der Franche Comté erwandern – etwa auf dem Pfad des Orlogeurs, dem Uhrmacher. Die bitterarme Bevölkerun­g betrieb einst einen regen Schwarzhan­del mit der benachbart­en Schweiz. Der Grenzfluss...
Fotos: Schneid Auf historisch­en Schmuggler­pfaden kann man die grüne Seite der Franche Comté erwandern – etwa auf dem Pfad des Orlogeurs, dem Uhrmacher. Die bitterarme Bevölkerun­g betrieb einst einen regen Schwarzhan­del mit der benachbart­en Schweiz. Der Grenzfluss...
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany