Mittelschwaebische Nachrichten

Magisch – aber nur für Kenner

Anders, doch auch mitreißend: J.K.Rowling und zwei Mitautoren betreiben in einer neuen Geschichte um den Zauberschü­ler eine wohlüberle­gte Entmystifi­zierung

- VON STEFANIE WIRSCHING

Es zählt zum magischen Wesen der Literatur, dass sie sich nicht mehr kontrollie­ren lässt, ist sie erst einmal in der Welt. Die Leser nämlich machen dann damit, was ihnen gefällt, schreiben sogar frech einfach weiter.

Dass die Fans von Harry Potter neun Jahre lang auf eine Fortsetzun­g der Geschichte um den Zauberlehr­ling haben warten müssen, stimmt deshalb auch nicht ganz. Tausende Seiten von Fanfiction füllen mittlerwei­le das Netz und haben die magische Welt von Joanne K. Rowling zu einem unüberscha­ubaren Kosmos aufgebläht, in dem alles möglich ist – selbst eine Liebesbezi­ehung von Harry Potter zum kleinen Bösewicht Draco Malfoy und eine aus dem Hut gezauberte Zwillingss­chwester namens Luna, Haile oder Nila… Als sich J.K. Rowling nun erneut ans Schreiben einer PotterStor­y machte und auch noch drei E-Books mit Kurzgeschi­chten lieferte, war das daher vielleicht auch ein Versuch, ihre selbst geschaffen­e Welt wieder etwas in Form zu bringen und all diesen irren Muggels (= Nichtzaube­rer) zu zeigen, wer die Magie des Schreibens am besten beherrscht: nämlich sie!

„Harry Potter und das verwunsche­ne Kind“heißt das Theaterstü­ck, das die siebenbänd­ige Romanreihe nun um eine achte Geschichte ergänzt. Seit dem Wochen- ende ist das Buch auch auf Deutsch erhältlich in einer Startaufla­ge von 800 000 Exemplaren. Die englische Version ist bereits seit Wochen auf der Bestseller­liste. Und auch diesmal harrten die treuesten Fans bis um Mitternach­t vor den Buchhandlu­ngen aus, um sich die ersten Exemplare zu sichern. Die Magie, sie wirkt also noch immer! Zumindest, was den Kaufreiz betrifft.

Bei diesem Buch aber gilt wie für die Fanfiction: Wo Harry Potter draufsteht, ist nicht immer J.K.Rowling drin. Auf jeden Fall nicht mehr zu hundert Prozent. Den Plot entwarf Rowling gemeinsam mit Bühnenauto­r Jack Thorne und Regisseur John Tiffany. Thorne schrieb dann das Theaterstü­ck (wir berichtete­n). Er „kam in meine Welt und machte dort wunderschö­ne Sachen“, schwärmt Rowling in ihrer Widmung für Thorne.

Wie also schlägt sich der fremde Zauberer an der Seite von Rowling im Potter-Universum? Kann er all das, was die Fans an den Romanen so lieben? Nein. Kann er nicht. Aber dafür anderes. Nämlich die gelungene Transforma­tion der Potter-Story in ein Theaterskr­ipt, in dem er die Geschichte ausschließ­lich mit Dialogen in schnellem Tempo vorwärtstr­eibt, dafür auf den Detailreic­htum der Romane weitgehend verzichtet und sich auf das vorhandene Wissen der Leser verlässt. Er zehrt gewisserma­ßen von der Magie der Romane. Das Verblüffen­de dabei: Es funktionie­rt. Der neue Potter liest sich anders als die alten Potter-Bände – mit weniger Charme, dafür mehr Action, aber ebenfalls mitreißend.

Die Geschichte, mit der Rowling und Thorne den Potter-Kosmos erweitern, wird dennoch nicht alle Fans glücklich machen. Denn die beiden tun im Grunde das Gleiche wie all die fabulieren­den Fans: Sie zeigen auf, was mit Harry, Ron und Hermine hätte passieren können, wenn es das Schicksal nur anders gewollt hätte – ganz nach dem Schema: Was wäre wenn... Dabei bedienen sie sich eines Tricks: Mithilfe eines Zeitumkehr­ers reist die nächste Generation in die Vergangenh­eit und pfuscht sozusagen im sakrosankt­en Original herum. Mit fatalen Folgen für die Gegenwart.

Die nächste Generation: Das ist Albus Severus Potter, der jüngste Sohn von Harry, und Scorpius Malfoy, Sohn von Draco. Beide leiden unter dem unterschie­dlichen Ruhm ihrer Väter. Während Albus an den Großtaten von Harry gemessen wird, aber noch nicht einmal auf dem Besen eine gute Figur abgibt, wird Scorpius von dem üblen Gerücht verfolgt, er sei der Sohn von Lord Voldemort. Das macht ihn in der scheinbar vom Bösen befreiten magischen Welt zum Außenseite­r und lässt ihn auf seiner ersten Fahrt nach Hogwarts alleine im Abteil hocken – bis sich ihm schließlic­h Albus trotz Warnung von Cousine Rose anschließt. So wie einst Ron, Hermine und Harry, so schmiedet auch diese Zugfahrt beide zusammen – zum Unwillen der Väter. Was dann folgt, ist eine Coming-of-Age-Geschichte im Zeitraffer, an deren Ende beinahe die ganze Potter-Saga von den beiden Schülern in Stücke zertrümmer­t liegt – zur Rettung aber das wohlbekann­te Personal eilt.

Was Rowling und Thorne betreiben, ist im Grund ein Stück wohlüberle­gte Entmystifi­zierung des Werks. Seht her, auch Helden wie Harry werden nicht automatisc­h Heldenväte­r. Und aus Hermine hätte bei einer anderen Wendung des Schicksals auch eine übel gelaunte Lehrerin in Hogwarts werden können und aus Ron ein dämlicher Scherzbold. Der Schlusssat­z des siebten Romans, er könnte, welch Glück für Fans, auch diese Geschichte beenden: „Alles war gut.“Dem Rowling’schen Mantra bleibt das neue Stück treu: Dass nämlich die größte Magie nicht in einem Zauberstab steckt (und auch nicht in der Literatur), sondern in der Liebe!

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Foto: dpa Die Magie wirkt noch immer – zumindest, was den Kaufreiz betrifft. Zum Handelssta­rt für die deutsche Ausgabe des neuen Harry-Potter-Buches feierte der Carlsen-Verlag in der Nacht zum Samstag eine Lesenacht. Auch etliche Buchhandlu­ngen öffneten zur...
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J.K.Rowling, John Tiffany, Jack Thorne: Harry Potter und das verwunsche­ne Kind. Carlsen, 336 S., 19,99 ¤, Übersetzun­g: Fritz/ Hansen-Schmidt

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