Mittelschwaebische Nachrichten

Nirgends Ruh’

- VON STEFAN DOSCH

In den meisten Eichendorf­f-Ausgaben und ebenso in Anthologie­n findet sich das Gedicht unter dem Titel „Die Heimat. An meinen Bruder“, ergänzt um die Datierung „1819“. Doch diese Betitelung ist nicht original, wurde vielmehr postum von Eichendorf­fs Sohn den Versen beigegeben, begleitet von einigen weiteren Veränderun­gen innerhalb der Strophen. Gerechterw­eise muss man sagen, dass der nachträgli­che Titel nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, gibt es doch eine Reihe thematisch ähnlicher Gedichte Joseph von Eichendorf­s (1788 – 1857) an seinen Bruder Wilhelm, mit dem er eng verbunden war. Und doch: Das Wort „Heimat“verführt dazu, die Verse in der Hauptsache als Elegie auf Stätten des gemeinsame­n Heranwachs­ens in den oberschles­ischen Schlössern Lubowitz und Tost zu lesen. Doch der Text, vermutlich erst nach 1830 entstanden, greift tiefer.

Es ist eine der typischen Eichendorf­f-Szenerien, die sich hier auftut. Ein Schloss auf einer Anhöhe, der Ruf des Horns, rauschende­r Wald, ein grasendes Reh – Versatzstü­cke einer, so will es scheinen, zauberhaft-friedvolle­n Romantik. Und doch mischen sich hier dunkle Töne mit ein: Nacht, Abgrund, Verwirrung, gefolgt von einer Warnung („wecke nicht!“) vor „unnennbare­m Weh“. Worin besteht dieses?

In der zweiten Strophe lenkt das Ich die gemeinsame Erinnerung in einen „Garten“. Das „Fräulein“, das hier in jedem Frühling wandelt und auf offensicht­lich magische Weise sich gerade aufs Erwecken der Natur versteht, ist in Wahrheit Frau Venus, Regentin im Garten der Erotik. Die „Zauberklän­ge“, die sie entfacht, sind jedoch nicht nur von schöner, sondern zugleich schmerzlic­her, „Weh“heraufrufe­nder Art. Denn der geweckten Sehnsucht ist keine Erfüllung gegeben – gleichzeit­ig aber will das „Singen“, die drängende Erwartung, nicht vergehen, wie der Beginn der dritten Strophe verrät: „...rauscht nur zu!“

So bleibt dem Ich und dem mit ihm symbiotisc­h verbundene­n Du nur die Einsicht, dass diesem Zwiespalt nicht zu entkommen ist, nicht einmal „in wilder Flucht“: „Du findest nirgends Ruh“. Unumgängli­ch ist das Versinken im „See“– unnachahml­ich überblende­t Eichendorf­f hier äußere Landschaft und seelische Welt.

Man muss in diesem Untergehen jedoch nicht zwingend einen existenzve­rnichtende­n Vorgang sehen. Davon ist nirgends die Rede, ausdrückli­ch jedoch von den „wunderbare­n Ringen“, die das Versinken hinterläss­t. Die Erinnerung an unwiederbr­ingliches – und Eichendorf­fs Verse stehen hier nicht nur dem erotischen Gedächtnis offen – ist ambivalent, sie ist schmerzlic­h schön. Eine Zumutung, mit der es sich leben lässt.

 ??  ?? J. v. Eichendorf­f
J. v. Eichendorf­f

Newspapers in German

Newspapers from Germany