Mittelschwaebische Nachrichten
Nirgends Ruh’
In den meisten Eichendorff-Ausgaben und ebenso in Anthologien findet sich das Gedicht unter dem Titel „Die Heimat. An meinen Bruder“, ergänzt um die Datierung „1819“. Doch diese Betitelung ist nicht original, wurde vielmehr postum von Eichendorffs Sohn den Versen beigegeben, begleitet von einigen weiteren Veränderungen innerhalb der Strophen. Gerechterweise muss man sagen, dass der nachträgliche Titel nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, gibt es doch eine Reihe thematisch ähnlicher Gedichte Joseph von Eichendorfs (1788 – 1857) an seinen Bruder Wilhelm, mit dem er eng verbunden war. Und doch: Das Wort „Heimat“verführt dazu, die Verse in der Hauptsache als Elegie auf Stätten des gemeinsamen Heranwachsens in den oberschlesischen Schlössern Lubowitz und Tost zu lesen. Doch der Text, vermutlich erst nach 1830 entstanden, greift tiefer.
Es ist eine der typischen Eichendorff-Szenerien, die sich hier auftut. Ein Schloss auf einer Anhöhe, der Ruf des Horns, rauschender Wald, ein grasendes Reh – Versatzstücke einer, so will es scheinen, zauberhaft-friedvollen Romantik. Und doch mischen sich hier dunkle Töne mit ein: Nacht, Abgrund, Verwirrung, gefolgt von einer Warnung („wecke nicht!“) vor „unnennbarem Weh“. Worin besteht dieses?
In der zweiten Strophe lenkt das Ich die gemeinsame Erinnerung in einen „Garten“. Das „Fräulein“, das hier in jedem Frühling wandelt und auf offensichtlich magische Weise sich gerade aufs Erwecken der Natur versteht, ist in Wahrheit Frau Venus, Regentin im Garten der Erotik. Die „Zauberklänge“, die sie entfacht, sind jedoch nicht nur von schöner, sondern zugleich schmerzlicher, „Weh“heraufrufender Art. Denn der geweckten Sehnsucht ist keine Erfüllung gegeben – gleichzeitig aber will das „Singen“, die drängende Erwartung, nicht vergehen, wie der Beginn der dritten Strophe verrät: „...rauscht nur zu!“
So bleibt dem Ich und dem mit ihm symbiotisch verbundenen Du nur die Einsicht, dass diesem Zwiespalt nicht zu entkommen ist, nicht einmal „in wilder Flucht“: „Du findest nirgends Ruh“. Unumgänglich ist das Versinken im „See“– unnachahmlich überblendet Eichendorff hier äußere Landschaft und seelische Welt.
Man muss in diesem Untergehen jedoch nicht zwingend einen existenzvernichtenden Vorgang sehen. Davon ist nirgends die Rede, ausdrücklich jedoch von den „wunderbaren Ringen“, die das Versinken hinterlässt. Die Erinnerung an unwiederbringliches – und Eichendorffs Verse stehen hier nicht nur dem erotischen Gedächtnis offen – ist ambivalent, sie ist schmerzlich schön. Eine Zumutung, mit der es sich leben lässt.