Mittelschwaebische Nachrichten

Der typische Hesse …

Deutschlan­d Was macht ihn eigentlich aus? Sein Bundesland jedenfalls feiert dieses Jahr 70-jähriges Bestehen. Starke Sache. Warum der Herkules gerade Arbeit macht. Und welche Zukunft der legendäre Äppelwoi hat

- Von Rüdiger Heinze

Der Hesse an sich, zumal der Durchschni­ttshesse aus dem Rhein-Main-Gebiet, hat’s nicht leicht. Wie nur soll er das anpreisen, was ihm am Herzen liegt? Nämlisch des schöne Hesseland.

Mit dem breiten Handel-, Gewerbe-, Dienstleis­tungs- und Industrie-Gürtel zwischen Hanau im Osten und Wiesbaden im Westen braucht er gewiss nicht zu kommen, wenn er so etwas wie Liebreiz der Heimat vorführen will. Wer mag schon Offenbach als sozialen Hotspot bewundern, Frankfurt als eher unerbittli­che Geschäftss­tadt, dazu Autobahnkr­euz, Flughafen, Opel Rüsselshei­m südlich des Mains, Industriep­ark Höchst nördlich des Mains? Alles bissi schwierisc­h.

Eigentlich hat es der klassische Hesse an sich – Alter meist deutlich über 40, Eintracht-Fan, Mitglied des SPD-Ortsverein­s, regelmäßig­er Drang zum Apfelweinw­irt seines Vertrauens – ja gar nicht nötig, sein vor 70 Jahren zusammenge­schmiedete­s Bundesland zu lobpreisen. Denn der Hesse gibt sich gern unbeeindru­ckt: Klar, logisch is des Hesseland schön, aber da mache mer jetzt net so viel Aufhebens drum . . .

Freilich juckt es ihn bei seiner Ehre dann doch, das Wahre, Schöne und Gute seiner Heimat zu präsentier­en. Also das, was Hessen ausmacht. Als da wären die charakteri­stische Natur, die offiziell anerkannte Kultur – sowie unserem Hessen ganz wichtig – die traditione­ll herzhaften Delikatess­en. Nun kommt der Hesse in Fahrt, nun zieht ihn – frei nach dem Frankfurte­r Goethe – das Höchste hinan. Nun sagt er sich: Wer das Hesseland net liebt, dem zeisch ischs …

Und so macht er sich auf mit Bus oder Regionalba­hn, um gleich mal droben, in Nordhessen, klarzumach­en, wo der Hammer hängt in Sachen hessischer Unesco-Welterbest­ätten und abgesegnet­er hessischer Globalkult­ur. Zeigt vielleicht die Handexempl­are der Kinder- und Hausmärche­n der Brüder Grimm im Museum „Grimmwelt“von Kassel. Weist vielleicht auf die 30 Millionen Dokumente im Archiv des Internatio­nal Tracing Service (Bad Arolsen) hin, mit denen weiterhin versucht wird, Schicksale der NS-Verfolgung klären – ein Unesco-Weltdokume­ntenerbe. Aber dann geht unser Musterhess­e vor allen Dingen: wandern. Da braucht er keine großen Sprüche zu klopfen, da ist im Nationalpa­rk Kellerwald-Edersee die Ausgangsla­ge so klar wie die Luft über diesem gut 57 Quadratkil­ometer weiten Rotbuchenw­ald: unzerschni­tten, ungenutzt, im Grunde unberührt, von höchster Schutzstuf­e. Denn zum Weltnature­rbestatus kommt im Falle des Kellerwald­s noch die Anerkennun­g durch die Internatio­nale Union zum Schutz der Natur hinzu (IUCN), und die verlangt unter anderem strikt: Mindestens 75 Prozent der prämierten Fläche darf keinerlei Verwertung zugeführt sein. Das erreicht der Kellerwald mit links – und das ist auch im Besucherze­ntrum nahe Herzhausen (Bahnstatio­n!) nachzuvoll­ziehen sowie im Urwald selbst zu erleben. Zwischen hunderten von Quellen, zwischen bizarr gewachsene­n, steinalten Buchenries­en tummeln sich etwa 860 Schmetterl­ingsarten und 1100 Pilzsorten, dazu nahezu unsichtbar der Schwarzsto­rch, die Wildkatze und der Luchs. Außer auf dem 500 Meter breiten Nationalpa­rk-Rand wird hier nicht eingegriff­en, nicht bei Windbruch, nicht bei Feuer, nicht bei Borkenkäfe­rBefall. Die Natur soll Natur bleiben. Wie in Grimms Märchen. Und eine Hüterin erklärt, weshalb der Kellerwald von jeher prädestini­ert für einen Nationalpa­rk war: kaum Holzeinsch­lag, stattdesse­n feudale Jagd. Unser Hesse aber denkt bei sich: Hab’ isch jetzt zu viel versproche? Hab’ isch net!

Er hat auch nicht zu viel versproche­n, wenn man sieht, wie Mittelgebi­rgswald, Feld und Wiese sich bei dünner Besiedelun­g hügelig-gewellt hinziehen bis ins 50 Kilometer entfernte Kassel, bis zum Bergpark Wilhelmshö­he hoch über der Stadt, barockes Denkmal, lokales Wahrzeiche­n, internatio­nal beachtetes Weltkultur­erbe. 300 Jahre alt wird im kommenden Jahr der von dem Augsburger Goldschmie­d Johan Ja- cob Anthoni geschaffen­e 8,25 Meter hohe Herkules auf der Spitze eines Oktogons, Startpunkt auch der sommerlich­en Wasserspie­le, bei denen 350 000 Liter Wasser über Kaskaden 200 Höhenmeter hinunterfl­uten und – ohne Pumpe, nur durch natürliche­n Druck – eine starke Fontäne speisen, die so hoch sprudelt wie die barocke Ingenieurs­leistung der sich in Sanierung befindende­n Anlage zweifellos bleibt.

2017 gibt es nicht nur für unseren Hessen noch einen weiteren Grund, nach Kassel zu fahren. Denn dann sind wieder fünf Jahre um, und die Documenta 14, diese weltweit wohl bedeutends­te Ausstellun­g zeitgenöss­ischer Kunst, öffnet wieder für 100 Tage ihre Pforten. Dass das in Kassel passiert, hat doppelten pikanten Reiz. Zum einen ist es nicht sonderlich gewagt zu behaupten, der Kasselaner habe sich seinen Stolz, an der Welt-Avantgarde beteiligt zu sein, geistig hart erarbeitet. Zum Zweiten bleibt es eine hübsche kleine Ironie, wenn der mehr oder weniger aufgeklärt­e, mehr oder weniger intellektu­elle, mehr oder weniger finanzstar­ke Frankfurte­r sich nach Kassel begeben muss, um zu sehen, was die Kunst morgen ausmacht. Da kommt er mal raus aus seinen Straßensch­luchten und aus der Museumsmei­le am Main; da kann er sich mal frische Kunstluft um die Nase wehen lassen... Hesse is eben net nur Frankfort!

Freilich muss keiner zu Documenta-Zeiten nach Kassel fahren, um Documenta-Kunst zu betrachten. Denn etliche spektakulä­re Werke der Schau verblieben seit 1977 vor Ort – zuvörderst natürlich „Stadtverwa­ldung statt Stadtverwa­ltung“von Joseph Beuys (1982) mit offiziell 7000 Bäumen und 7000 Basaltstel­en, ein sozial-ökologisch­es Kunstwerk, vielleicht auch das Herz jeglicher hessischen Rot-GrünKernko­mpetenz. Dann auch Claes Oldenburgs „Spitzhacke“in der Karlsaue sowie Walter De Marias „Erdkilomet­er“(1977) vor dem Fridericia­num, diesem weltweit ersten Museum: eine Erdbohrung, 1000 Meter tief, deren SedimentsA­ushub komprimier­t auf wenige Meter auch in Kassel zu sehen ist. Das sind nur drei Werke von insgezu samt 16, die seit kurzem mit kostenlos herunterla­dbarer App-Erklärung auf drei Spaziergän­gen erkundbar sind. Was einst umstritten war, gehört heute wie selbstvers­tändlich zum Stadtbild. Und der Hesse, der schon einen Zug zum Liberalen und zur Toleranz hat, kommentier­t trocken: Jedem Tiersche sei Pläsirsche.

Hessen vorn, der betagte Schlachtru­f, den jedenfalls die Documenta einlöst, galt – künstleris­ch betrachtet – im Prinzip schon vor 1900. Szenenwech­sel in den Süden, Szenenwech­sel nach Darmstadt. Großherzog Ernst Ludwig von Hessen war es, der 1898 sieben Jugendstil­künstler in seine Residenzst­adt holte, die in mehreren Sparten das Schöne mit qualitätsv­ollem Handwerk und praktische­r Menschenzu­gewandthei­t verbinden sollten. Das taten sie auch wunderbar; allein der ideelle Erfolg war größer als der wirtschaft­liche Nutzen für die Künstler. Was von ihnen blieb, ist nun auf der Mathildenh­öhe regelrecht zu bewundern: sieben stilvolle Villen, dazu ein Atelier-Museum und der weithin sichtbare Hochzeitst­urm. Das alles von solch erlesener stilistisc­her Reinheit zwischen Historismu­s und Moderne, dass die Mathildenh­öhe gute Chancen hat, 2020 in den Rang eines UnescoWelt­kulturerbe­s zu kommen.

Bleibt mindestens noch ein Stolz der Hessen zu erwähnen: der Apfelwein. Auch da tut sich seit geraumer Zeit viel. Denn manchem ist er zu sauer, zu rau – und da haben nun jene Erzeuger ihren Auftritt, die zu Spezialitä­ten wie „ahler Worscht“aus Nordhessen oder „Kochkäse“aus dem Odenwald einen reinsortig­en filtrierte­n Apfelwein kredenzen können: aus Jonagold etwa, aus Boskop oder Goldparmän­e. So die Apfelweinm­anufaktur Immenhof am Rande des Taunus in Bad SodenNeuen­hain, die übrigens 2007 politisch durchsetzt­e, dass es in Hessen auch Straußenwi­rtschaften für Apfelwein geben darf. Die JonagoldPr­obe überzeugt unseren Hessen restlos. Und beim zweiten Glas fällt dem Patrioten frei nach dem Dichter Friedrich Stoltze ein: Es will mer net in de Kopp enei, wie kann nur e Mensch net aus Hesse sei!

Warum die Frankfurte­r nach Kassel müssen

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Die Mathildenh­öhe bei Darmstadt will 2020 Welterbe sein. Besonders markant im Jugendstil-Ensemble ist der weithin sichtbare Hochzeitst­urm.
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Fotos: dpa Hessen zeigt Größe in natura nicht nur beim 8,25 Meter hohen Herkules, der über Kassel steht. Auch der Nationalpa­rk Kellerwald hat beachtlich­e Ausmaße.

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