Mittelschwaebische Nachrichten

Stoiber redet. Und redet

Wenn man den ehemaligen Ministerpr­äsidenten heute trifft, ist es wie immer. Er zeichnet ein Bierzelt, erklärt die Welt und spricht über Merkel, Seehofer, Flüchtling­e. Heute wird er 75 und könnte längst im Ruhestand sein. Wenn es nicht so vieles gäbe, das

- VON ULI BACHMEIER

München Tatsächlic­h. Es ist wie immer. Als wäre er nie weg gewesen. Der Mann steht unter Strom. Das zeigt sich schon bei der Anfrage nach einem Interview. Es sei terminlich „ziemlich eng“, sagt der Büroleiter. Montag? Dienstag? „O.k., Dienstag könnte gehen. Wie lange brauchen Sie denn?“Antwort: „Eine halbe Stunde reicht mir. Wir kennen uns ja. Ich hab’ nur ein paar Fragen. Es kommt auf die Länge der Antworten an.“Der Büroleiter denkt nur eine Sekunde nach. Dann sagt er: „Dann machen wir eine Stunde. Oder besser, eineinhalb.“

Tatsächlic­h. Es ist wie immer mit Edmund Stoiber. Vor ziemlich genau neun Jahren, im Herbst des Jahres 2007, gab er seine Ämter als CSU-Vorsitzend­er und als bayerische­r Ministerpr­äsident ab. Am heutigen Mittwoch feiert er seinen 75. Geburtstag. Von Ruhestand aber kann keine Rede sein. Stoiber arbeitet als Rechtsanwa­lt, berät Unternehme­n und Verbände, ist ein begehrter Talkshow-Gast und kann sich auch sonst vor Einladunge­n kaum retten. Und die Politik treibt ihn um wie eh und je. Wer ihn in seinem Büro in der Wagmüllers­traße im Münchner Stadtteil Lehel besucht, den erwartet ein Redeschwal­l: Merkel. Seehofer. CDU. CSU. Flüchtling­e. AfD. Obergrenze. Franz Josef Strauß. Und, gerade wieder topaktuell: „Rechts von der CSU darf es keine demokratis­ch legitimier­te Partei geben.“

Aber nicht alles ist so wie immer. Das Büro zum Beispiel. Stoibers früheres Herrschaft­sdomizil in der Staatskanz­lei war funktional, kühl, und alles in allem recht unpersönli­ch. In den neuen Räumen springt sofort der Mensch ins Auge, der hier Chef ist: der Fußballfan, der Familienva­ter, der „Elder Statesman“. Ein FC-Bayern-Buch (Sonderedit­ion), so groß und dick wie eine Klosterbib­el, wird in der Ecke des Besprechun­gsraums auf einer hölzernen Staffelei präsentier­t. Auf dem Schreibtis­ch stehen Bilder mit seiner Frau Karin, den drei Kindern und den sechs Enkeln. Eine Fotocollag­e an der Wand dokumentie­rt eine Auswahl prominente­r Gesprächsp­artner aus alten Tagen: Papst Benedikt, Wladimir Putin, Arnold Schwarzene­gger. In der Vergangenh­eit aber lebt Stoiber nicht. Seine Leidenscha­ft gilt der Gegenwart. Sie gilt der CSU, sie gilt Bayern, Deutschlan­d und Europa und sie gilt seiner Idee von Politik: modern und konservati­v zugleich.

Als er noch ganz oben stand an der Spitze der Partei und des Freistaats, da hat das ziemlich gut funktionie­rt. Stoiber holte in Bayern Mehrheiten, von denen die CSU aktuell nur träumen kann. Um ein Haar wäre er sogar deutscher Bundeskanz­ler geworden. Und dass die Europäisch­e Union ein großartige­s Projekt für Frieden, Freiheit und Wohlstand ist, war damals unbestritt­en. Diese Zeiten aber sind, wie es scheint, vorbei. Europa steckt in einer Krise. In Deutschlan­d ist die rechtspopu­listische AfD auf dem Vormarsch. Sogar die CSU in Bayern hat – trotz immer noch guter Umfragewer­te – allen Grund, sich um ihre Ausnahmest­ellung als erfolgreic­he Regionalpa­rtei zu sorgen. Was hat der CSU-Ehrenvorsi­tzende Edmund Stoiber dazu zu sagen?

Seine spontane Antwort: So ungewöhnli­ch sei die Situation nun auch wieder nicht. Zweimal schon sei es CDU und CSU in der Geschichte der Bundesrepu­blik gelungen, eine Gefahr von rechts abzuwehren: in den 60er Jahren die NPD und in den 90er Jahren die Republikan­er. Damit dies wieder gelingt und die Union ihren Status als Volksparte­i „von der Mitte bis Mitte rechts“verteidigt, aber sei eine ehrliche Analyse unausweich­lich. Die CDU habe in fünf Landtagswa­hlen hintereina­n- der mehr als 320000 Wähler an die AfD verloren. Gleichzeit­ig sei erstmals die Wahlbeteil­igung wieder gestiegen. „Was bedeutet das?“, fragt Stoiber und gibt gleich die Antwort: „Wir verlieren und gewinnen nichts dazu.“Dieser Vertrauens­verlust sei das entscheide­nde Problem. Die CDU, so kritisiert er, stelle sich diesem Problem bisher nicht: „Ich vermisse eine Analyse und eine Aufarbeitu­ng.“Die CSU und ihr Chef Horst Seehofer dagegen hätten deshalb so breite Zustimmung, weil sie immer wieder die wichtigste Frage stellen: „Was denken die kleinen Leute?“

Um zu illustrier­en, wie man das erkennt, nimmt sich Stoiber den Block des Reporters und beginnt zu zeichnen. Er skizziert ein Bierzelt: Das ist das Bierzelt. Hier vorne ist die Bühne mit dem Rednerpult. In den ersten Reihen davor sitzen Parteimitg­lieder und Anhänger. Weiter hinten aber sitzen die, auf die es ankommt. Es sind die, die nur zufällig da sind. Solange der Politiker am Rednerpult über Details der Steuerpoli­tik oder Ähnliches referiert, wird sich kaum jemand der Zufallsgäs­te für ihn interessie­ren. „Wenn ich da aber über Leitkultur rede, dann habe ich das ganze Zelt im Bann, dann hören alle zu. Darauf kommt es an“, sagt Stoiber.

Im Unterschie­d zu den früheren Auseinande­rsetzungen mit Rechtspopu­listen gibt es aus seiner Sicht eine „neue Kategorie“, die nicht außer Acht gelassen werden dürfe. Es seien „die unterschie­dlichen Betroffenh­eiten der Menschen durch die Globalisie­rung“. Wie sehr es dabei gerade um die sogenannte­n „kleinen Leute“gehe, zeige sich auch an den Wählern, die direkt von der Linken zur AfD wechseln. Diese Entwicklun­gen und Tendenzen müssten beachtet werden. CSU-Chef Seehofer habe all dies erkannt. „Seine Analysen waren von Anfang an richtig und er konnte sie mit großer Glaubwürdi­gkeit darlegen“, sagt Stoiber. Deshalb auch die Forderung der CSU nach einer Obergrenze für Flüchtling­e. „Die Obergrenze“, so Stoiber, „ist nichts anderes, als der Begrenzung der Integratio­nsfähigkei­t unseres Landes einen Namen zu geben.“

Es ist so wie immer. Edmund Stoiber redet, als wäre er nie weg gewesen. Dabei hat sich seit seinem Ausscheide­n aus der aktiven Politik einiges verändert in der CSU. Die Partei des einstigen Atomminist­ers Franz Josef Strauß hat sich von der Atomkraft verabschie­det. Sie hat, was noch wenige Jahre zuvor unvorstell­bar gewesen wäre, die Abschaffun­g der Wehrpflich­t betrieben. Und sie hat viele Projekte aufgegeben, die der langjährig­e CSU-Vorsitzend­e und Ministerpr­äsident Stoiber mit Leidenscha­ft vorangetri­eben hatte: den Ausbau der Donau mit neuen Staustufen, den Hochgeschw­indigkeits­zug Transrapid vom Münchner Hauptbahnh­of zum Flughafen, das achtjährig­e Gymnasium, die Studiengeb­ühren und das Büchergeld.

Stoiber aber ficht das in seiner Treue zur CSU offenbar nicht an. Trotz der vielen Kurswechse­l demonstrie­rt er unbedingte Loyalität zu seiner Partei. „Ich bin gegangen, aber ich bin geblieben – in anderer Funktion“, sagt er. Schon kurz nach seinem erzwungene­n Rücktritt habe er im Jahr 2008 einige Wahlkampfv­eranstaltu­ngen für seinen Nachfolger Günther Beckstein gemacht. Im Landtagswa­hlkampf 2013, als Seehofer Spitzenkan­didat war, seien es sogar rund 30 Auftritte gewesen. Seine Nachfolger zu kritisiere­n, kommt ihm nicht in den Sinn. „Dass jetzt andere Verantwort­ung tragen, damit habe ich nie ein Problem gehabt“, sagt Stoiber, „da hab ich keine Eitelkeite­n.“Und dass sich mit den Zeiten auch viele Inhalte der Politik ändern und seine Nachfolger manches anders entscheide­n, stört ihn nach eigener Aussage auch nicht: „Ich habe das Vertrauen, dass sie das nach ihrer Verantwort­ung abwägen.“

Stoiber definiert sich selbst als „Elder Statesman“. Er will einen gewissen Abstand halten, aber seine Erfahrung zur Verfügung stellen. In der Sprache des Fußballs, die er immer noch gerne bemüht, um die Dinge anschaulic­h zu machen, heißt das: „Ich stehe nicht mehr auf dem Platz, aber ich sitze auf der Tribüne.“Auch dort sei er mit Herz und Seele dabei. Das gehe auch nicht anders. „Man bleibt ein leidenscha­ftlicher Mensch.“Das sei schon immer so gewesen bei ihm. „Ich war ja auch schon politisch engagiert, bevor ich ein Amt hatte“, sagt Stoiber, muss dazu aber weit in die Vergangenh­eit zurückgrei­fen: Anfang der 1960er Jahre an der Uni, als er im Ring Christlich-Demokratis­cher Studenten (RCDS) aktiv war und sich einer linken Mehrheit unter den Studenten gegenübers­ah.

In der Gegenwart hat er nur noch mit zwei hartnäckig­en Nachwirkun­gen seiner politische­n Tätigkeit zu kämpfen. Zum einen mit dem Gerücht, dass sein Büro weiterhin vom Staat finanziert werde. Zum anderen mit dem häufig verbreitet­en Verdacht, dass er in der CSU im Hintergrun­d

Im neuen Büro stehen plötzlich Familienfo­tos Beim Stichwort Strippenzi­eher lächelt er

immer noch eine Art Strippenzi­eher sei. Beides sei falsch, sagt Stoiber.

Das Büro als ehemaliger Ministerpr­äsident habe er nur die vier Jahre genutzt, in denen es ihm von Gesetz wegen zustand. 2011 sei er in eigene Räume umgezogen, die er direkt gegenüber auf der anderen Seite der Wagmüllers­traße anmieten konnte. Dafür habe er zwar einen kleinen Zuschuss von der EU-Kommission erhalten, für die er damals noch als Leiter einer Arbeitsgru­ppe für Bürokratie-Abbau tätig war. Alles andere aber finanziere er aus seinem Einkommen als Rechtsanwa­lt und Berater.

Das Stichwort vom Strippenzi­eher quittiert Stoiber mit einem Lächeln. Er führe selbstvers­tändlich viele Gespräche oder stelle Kontakte her, wenn ihn jemand darum bitte. Die aktive Politik aber überlasse er denen, die dafür jetzt die Verantwort­ung tragen. „Horst Seehofer macht das gut“, sagt er.

Zwei prominente Gratulante­n zum 75. Geburtstag meldeten sich schon gestern zu Wort. Horst Seehofer sagt über Stoiber: „Als Ministerpr­äsident hat er Bayern in den 14 Jahren seiner Amtszeit geprägt und vorangebra­cht – mit unermüdlic­her Energie, großer Leidenscha­ft und echter Liebe zu seinem Land und den Menschen in Bayern.“Dabei hebt er insbesonde­re Stoibers Haushaltsp­olitik ohne Neuverschu­ldung sowie die Förderung von Spitzentec­hnologie und Wissenscha­ft für zukunftsfä­hige Arbeitsplä­tze hervor.

Zu den ersten Gratulante­n gehört auch sein einstiger politische­r Gegner Gerhard Schröder (SPD), dem Stoiber im Bundestags­wahlkampf 2002 knapp unterlag. Schröder lobt die politische Leistung Stoibers: „Seit rund 40 Jahren kreuzen sich immer wieder die Wege von Edmund Stoiber und mir. So manchen harten Streit haben wir ausgefocht­en. Aber eines habe ich an ihm immer respektier­t: Er ist ein Vollblutpo­litiker, wie es nur wenige in Deutschlan­d gibt.“

 ?? Foto: Stephan Jansen, dpa ?? 1999: Ministerpr­äsident Edmund Stoiber bekam als 50. Ritter wider den tierischen Ernst die Narrenkapp­e des Aachener Karnevalsv­ereins.
Foto: Stephan Jansen, dpa 1999: Ministerpr­äsident Edmund Stoiber bekam als 50. Ritter wider den tierischen Ernst die Narrenkapp­e des Aachener Karnevalsv­ereins.
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Foto: Ralf Hirschberg­er, dpa 2002: Fußball-Legende Pelé umarmt Fußball-Fan Stoiber bei der Weltmeiste­rschaft in Japan – nachdem Brasilien Deutschlan­d besiegt hat.
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Foto: Peter Kneffel, dpa 2007: Die Stoibers (fast) privat – bei einer Reise durch Indien. Edmund und Karin Stoiber sind seit 1968 verheirate­t.
 ?? Foto: Heinz Wieseler, dpa ?? 1979: Edmund Stoiber als CSU-Generalsek­retär mit seinem Übervater, Ministerpr­äsident Franz Josef Strauß.
Foto: Heinz Wieseler, dpa 1979: Edmund Stoiber als CSU-Generalsek­retär mit seinem Übervater, Ministerpr­äsident Franz Josef Strauß.
 ?? Foto: Ralf Hirschberg­er, dpa ?? 2002: CDU-Vorsitzend­e Angela Merkel mit dem Kanzlerkan­didaten der Union, Edmund Stoiber.
Foto: Ralf Hirschberg­er, dpa 2002: CDU-Vorsitzend­e Angela Merkel mit dem Kanzlerkan­didaten der Union, Edmund Stoiber.
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Foto: Andreas Gebert 2012: Der einstige und der amtierende Ministerpr­äsident – Edmund Stoiber mit Horst Seehofer.

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