Mittelschwaebische Nachrichten
Die nackten Masken
Verkündet von den Schlägen der großen Glocke des Kapitols rief der plötzliche Tod Papst Leos X. am Morgen des 2. Dezember 1521 in der römischen Bevölkerung jene gemischten Gefühle von Ergriffenheit und Aufregung hervor, die stets das Dahinscheiden von Personen begleiten, welche durch ihre Gegenwart Leben und Geschichte einer großen Gemeinde bestimmt haben.
Nach dem Tod des Papstes stellte sich sofort das Problem der Nachfolge. Aber das Kardinalskollegium zögerte fast einen Monat, ehe es sich im Konklave versammelte, denn es wollte die Befreiung des Kardinals Ferreri abwarten, der von den Karl V. ergebenen ,,Kaiserlichen“in Pavia
gefangengehalten wurde. Die Partei der Kardinäle , die dem König von Frankreich, Franz I. gewogen war, mochte nicht auf die Stimme eines Mitglieds des Heiligen Kollegiums verzichten, das erklärtermaßen frankophile Gefühle hegte. Die Wahlgeschäfte begannen erst am 27. Dezember, unter düsteren Auspizien wegen des Zwists der beiden Faktionen – den ,,Kaiserlichen “und den ,,Franzosen“. Die Wahl eines neuen Papstes erwies sich sofort als Serpentinenpfad, der aber die Kardinäle jedesmal zum Ausgangspunkt zurückbrachte. So folgte eine Abstimmung auf die andere, ohne zu einer Mehrheit zu führen. In der Stadt feierte man Messen, und schloß Wetten ab; es gab auch ein paar Prozessionen, um eine rasche Übereinkunft unter den Mitgliedern des Heiligen Kollegiums zu erflehen. Baldesar Castiglione, Gesandter der Gonzaga von Mantua beim Kirchenstaat, schrieb: ,,Jeden Morgen erwartet man die Herabkunft des Heiligen Geistes, aber mir scheint, daß er sich weit von Rom entfernt hat.“
Am 9. Januar 1522, beim elften Wahlgang, kam der Heilige Geist endlich flügelschlagend herab in das hohe Gewölbe der Sixtinischen Kapelle, wo das Konklave tagte, und führte eine hastige Übereinkunft herbei, die viele und schwerwiegende Unbekannte barg.
Kardinal Medici – angesichts solcher Schwierigkeit eines mehrheitlichen Konsensus unter den Kandidaten zweier gegensätzlicher Lager – hielt eine kurze Ansprache an die Wähler.
,,Ich sehe, daß von uns, die wir hier versammelt sind, keiner Papst werden kann. Ich habe drei oder vier Vorschläge gemacht, aber sie wurden zurückgewiesen. Die von anderer Seite vorgebrachten kann ich aus vielen Gründen nicht akzeptieren. Wir müssen also jemanden suchen, der nicht in unserer Mitte ist, der aber Kardinal sein muß und ein guter Mensch. Nehmt den Kardinal von Tortosa, Adrian Florensz von Utrecht, ein ehrenwerter Mann von 63 Jahren, der von allen als Heiliger betrachtet wird.“
An diesem Punkt intervenierte der Kardinal Caetani, der den neuen Kandidaten kannte und ihn als achtbaren Mann beschrieb. Nach solcher ersten Zustimmung zum Vorschlag des Medici folgten ihm die anderen – ein wenig aus Müdigkeit, ein wenig aus undeutlicher Überzeugung – und binnen kurzem wurde die Zweidrittelmehrheit erreicht.
So hatten die beiden rivalisierenden Faktionen sich nach vielen Auseinandersetzungen endlich auf einen abwesenden flämischen Kardinal geeinigt, den die Mehrheit der Stimmberechtigten gar nicht kannte. An diesem Punkt fiel Kardinal Cornaro, dem Dekan des Kardinalskollegiums, die Aufgabe zu, vom Fenster zum Domplatz hinaus den Namen des neuen Papstes zu verkünden. Aber der alte Cornaro hatte eine so schwache Stimme – vielleicht zusätzlich geschwächt durch die tiefe Unsicherheit über das Ereignis – daß Kardinal Campegio dem wartenden Volk die Verkündigung wiederholen mußte.
Eine große Menschenmenge war vor St. Peter zusammengeströmt, um zu erleben, wie sich der neue Papst am Fenster zeigte, aber man erfuhr mit Erstaunen und Zorn, daß es sich um einen flämischen Papst handelte, der sich gar nicht zeigen konnte, weil er im fernen Spanien wohnte. Die Nachricht von der Wahl eines ,,Barbaren“als Oberhaupt der Römisch-katholischapostolischen Kirche erschien als Beleidigung für den Stuhl Petri und für das Volk der Gläubigen. Es würden also noch Monate vergehen, bis der neue Papst überhaupt in Rom ankommen konnte. Oder man riskierte gar ein neues Avignon. Das Volk machte sich mit Geschrei und Verwünschungen Luft. Doch am verzweifeltsten von allen waren die Höflinge Leos X., weil sie wohl wußten, daß sie während des Interregnums ihre Präbenden nicht erhielten, und daß der flämische Papst gewiß seine eigenen Landsleute nach Rom rufen würde, um diese mit den Ämtern der größten Einkommen und Ehren zu bekleiden.
Die Kardinäle des Konklaves wurden sich alsbald über den Irrtum klar, den sie begangen hatten, über die Unpopularität und die Risiken dieser Wahl. Sie bereuten schon jetzt ihre Entscheidung, die zu hastig und in einem Moment von Müdigkeit getroffen worden war, nach so vielen ergebnislosen Wahlgängen. Ein Zeuge beschrieb sie wie die Geister des Limbus, in bleicher Bestürzung. Der Kirchenstaat hatte große Schulden wegen der grandiosen Verschwendungssucht des verstorbenen Leo X., wegen der Vergeudung und des Luxus der Kurie, und wegen der Notwendigkeit kostspieliger militärischer Unternehmungen, die den fortgesetzten Versuchen der beiden Rivalen Karl V. und Franz I., die päpstlichen Territorien in Besitz zu nehmen, Einhalt gebieten sollten. Ein abwesender Papst, dazu noch ein ,,Barbar“, emporgekommen durch die Protektion Karls V., erschien jetzt allen als schlechteste Lösung, um die Schwierigkeiten der Kirche zu überwinden.
Als die Kardinäle das Konklave verließen, empfing sie die Menge mit Pfiffen, Drohungen und höhnischen Worten. Es flogen auch ein paar Steine, weshalb die Purpurträger von diesem Tag an in ihren Palästen eingeschlossen blieben und sich mehrere Monate lang nicht auf die Straße wagten, um dem zornigen Volk nicht zu begegnen.
KDer chinesische Schlaf
ardinal Cosimo Rolando della Torre machte gerade ein Schläfchen in seinem Arbeitszimmer in der Beletage seines Palasts an der Piazza dell’Oro am Ende der Via Giulia. Hinter den Scheiben der zwei hohen Fenster, die auf den Tiber hinausschauten, glühte die Sommersonne und entzog der feuchten Erde in den Wein- und Gemüsegärten längs des Flusses einen dichten Dunst, der seit den ersten Morgenstunden reglos über Rom lag und die Umrisse der Engelsburg verwischte und das ganze Panorama des Borgo und des Vatikanischen Hügels verschwimmen ließ.
»1. Fortsetzung folgt