Mittelschwaebische Nachrichten
Der Schulz Defekt
Alle sprachen vom „Schulz-Effekt“. Dann verlor seine SPD im Saarland und jetzt in Schleswig-Holstein. Am Sonntag steht Nordrhein-Westfalen an. Die Partei nimmt ihren Chef vorsorglich aus der Schusslinie. Und die CDU? Die spricht von einem „Merkel-Effekt“
Berlin Ausgerechnet jetzt. Eigentlich, so heißt es in der Berliner SPDParteizentrale, müsste Martin Schulz jetzt irgendwo in Münster, Dortmund oder Köln versuchen, noch unentschlossene Wähler zu überzeugen, ihr Kreuz am Sonntag bei der SPD zu machen. Stattdessen zwingt der Terminkalender den Kanzlerkandidaten um die Mittagszeit zu einem Auftritt, bei dem es für ihn wohl keine einzige Wählerstimme zu holen gibt. Und das an einem Tag, an dem das Entsetzen im Willy-Brandt-Haus nach der Wahlschlappe in Schleswig-Holstein zum Greifen nah ist.
Schulz soll bei der Industrie- und Handelskammer in Berlin eine wirtschaftspolitische Grundsatzrede halten. Wie unpassend lang geplante Termine doch manchmal durch aktuelle Entwicklungen werden können. Mit den Unternehmern hat der Mann, der sich selbst vor allem als Anwalt der kleinen Leute darstellt, ein denkbar schweres Publikum. Gerade erst haben Arbeitgeber vor den Gefahren einer rot-rot-grünen Bundesregierung unter Schulz gewarnt. Ausgerechnet jetzt also muss der oberste Genosse ihnen seinen Respekt zollen, bei der Wirtschaft um Vertrauen werben und unbezahlbaren Wahlgeschenken eine Absage erteilen. Mit ihm werde es weder „unerfüllbare Sozialversprechen“noch „unerfüllbare Steuersenkungsversprechen“geben, sagt Schulz dann auch. Als ehemaliger Buchhändler kenne er die Sorgen und Nöte der Unternehmer. Er lobt die soziale Marktwirtschaft nach dem Modell des CDU-Mannes Ludwig Erhard, aber auch die Wirtschaftspolitik des letzten SPDKanzlers Gerhard Schröder. Unbeirrt hält Schulz die offenbar lange vor der Schleswig-Holstein-Schlappe verfasste Rede. Dass diese nun vor allem im Lichte des Fanals im Norden beobachtet wird – für die Strategen in der Parteizentrale ist das „eine mittlere Katastrophe“.
Denn nach dem Desaster in Kiel bleiben dem Parteichef nur noch wenige Tage Zeit bis zum noch viel wichtigeren Urnengang in Nordrhein-Westfalen. Statt der Wirtschaft seine Aufwartung zu machen, sagen die Parteistrategen, müsste Schulz sich doch jetzt vor allem an die „kleinen Leute“wenden, an Arbeiter, Arbeitslose, Rentner. Bei einer Niederlage in seiner Heimat, dem bevölkerungsreichsten Bundesland, drohen schließlich die Träume vom Kanzleramt zu platzen. Und damit auch der Traum der SPD, eine künftige Bundesregierung anzuführen. Damit dies nicht geschieht, wollen sie bei den Sozialdemokraten nun „die Ärmel hochkrempeln und den Helm aufsetzen“. Erste Aufgabe ist dabei, den Mythos vom „Schulz-Effekt“, der wochenlang die Partei zu beflügeln schien, irgendwie am Leben zu halten.
Dass es natürlich nicht an Martin Schulz gelegen habe, das betonen am Tag danach viele in der Partei. Zum alleinigen Sündenbock auserkoren ist der bisherige Ministerpräsident Torsten Albig. Viele SPD- Leute glauben nicht nur, dass Albigs politische Karriere beendet sein wird. Sie wünschen es sich sogar. Dabei ist es nicht nur das eigene Abschneiden, das die SPD-Strategen in höchste Aufregung versetzt. Da ist vor allem das des großen Konkurrenten CDU.
Wenn es stimmt, dass Angela Merkel auch im zwölften Jahr ihrer Kanzlerschaft nichts dem Zufall überlässt, dann ist auch die Wahl ihres Blazers an diesem Montag mit einer klaren Botschaft verbunden. Die Bundeskanzlerin und CDUChefin hat ein helles, fast gelbes Lindgrün zur schwarzen Hose aus dem Kleiderschrank geholt und somit die Farben des Staates Jamaika gewählt – Schwarz, Grün und Gelb. Sind das auch die Farben der künftigen Landesregierung in Kiel – und sogar der Bundesregierung nach den Wahlen im Herbst? So weit will Merkel nicht gehen. Die Entscheidung, welche Koalition geschlossen werde, überlasse die CDU ihren jeweiligen Landesverbänden. „Das schließt Koalitionen mit der FDP und den Grünen ein.“
Gleichwohl ist es in Berlin ein offenes Geheimnis, dass Angela Merkel dem überraschenden Sieger der Wahl in Schleswig-Holstein, Daniel Günther, keinen Stein in den Weg legen würde, wenn er neue Pfade beschreiten und eine Jamaika-Koalition schmieden würde. Denn sollten tatsächlich auch FDP und AfD in den Bundestag einziehen und es somit sechs Fraktionen geben, könnte es neben der Großen Koalition rechnerisch nur noch für Dreierbündnisse reichen.
Für Angela Merkel jedenfalls gibt es keinen Zweifel daran, dass die CDU vom Wähler zwischen Nordund Ostsee einen „klaren Regierungsauftrag“erhalten hat. Ihren eigenen Anteil spielt sie dabei bescheiden herunter – auch wenn Günther vom „Merkel-Effekt“schwärmt (ein Seitenhieb auf Schulz?), die Beliebtheit der Bundeskanzlerin bei den Menschen im hohen Norden der Republik hervorhebt und vom „Spaß“erzählt, den der Wahlkampf mit ihr gemacht habe.
Merkels eigene Analyse fällt dagegen eher nüchtern und pragmatisch aus. Die Regierung Albig habe eine schlechte Bilanz und keine Zukunftsperspektive vorgelegt. Der Union sei es gelungen, die Finger in die Wunden zu legen und die Defizite anzuprangern. Genauso werde man es auch im Wahlkampf-Endspurt in Nordrhein-Westfalen machen, wo es gelte, Armin Laschet bei seinem Kampf gegen Ministerpräsidentin Hannelore Kraft von der SPD zu unterstützen. „Auch hier haben wir einen CDU-Herausforderer, der all das, was der Landesregierung nicht gelungen ist, thematisiert.“Denn die Wähler wüssten sehr wohl zwischen einer Landtagsund einer Bundestagswahl zu unterscheiden.
Ist der Schulz-Effekt also bereits verpufft? In der Union herrscht nach dem klaren Sieg im Saarland und dem Überraschungstriumph in Schleswig-Holstein eine gewisse Euphorie, auch wenn Merkel vor Überheblichkeit warnt. „Jeder Herausforderer der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, auch Martin Schulz, ist eine Aufgabe, mit der ich mich respektvoll auseinandersetze“, sagt sie. Daran habe sich „nichts geändert“.
Im Merkel-Lager fühlt man sich jedenfalls bestätigt. Es sei „absolut richtig“gewesen, nach dem Rücktritt von SPD-Chef Sigmar Gabriel und der Ausrufung von Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten Ende Januar ruhig und gelassen zu bleiben und die erste Angriffswelle des Herausforderers ins Leere laufen zu lassen, hört man im Adenauer-Haus unter den Getreuen der Kanzlerin. Angela Merkel müsse nicht über jedes Stöckchen springen, das man ihr hinhalte. Vor den Führungsgremien ihrer Partei und bei ihrem Auftritt vor der Presse verteidigt Merkel das Festhalten am vereinbarten Zeitplan. „Landtagswahl ist Landtagswahl, Bundestagswahl ist Bundestagswahl.“Nun heiße es erst einmal „volle Kraft voraus in Nordrhein-Westfalen“, danach werde die Union ihr gemeinsames Wahlprogramm erarbeiten, das Anfang Juli verabschiedet werden soll.
Die Aufregung in der SPD-Zentrale hat aber noch andere Gründe als die CDU. Die Grünen sind wieder stark. Und: Die FDP ist zurück. Auch in Nordrhein-Westfalen, wo Parteichef Christian Lindner als Spitzenkandidat antritt, zeichnet sich ein gutes Ergebnis ab. Wenn Lindner ankündigt, die FDP wolle die rot-grüne Landesregierung „kielholen“, nehmen die Genossen das nun plötzlich wieder ernst. Zumal die Arbeit der NRW-Landesregierung in den jüngsten Umfragen noch schlechter beurteilt wird als die der Regierung in Kiel.
Dass in Schleswig-Holstein nicht mehr so viele konservative Wähler zur AfD abgewandert sind, wird bei der SPD zumindest mit gemischten Gefühlen registriert. Jede Schwächung der AfD ist gut, bedeutet aber eben auch eine Stärkung der CDU. Und dass die Linkspartei es nicht einmal in den Kieler Landtag geschafft hat, versetzt den heimlichen, für manche unheimlichen Träumen von einer rot-rot-grünen Regierung auch auf Bundesebene einen empfindlichen Dämpfer. Selbst die bisherige Gewissheit, dass es nach der Bundestagswahl für die SPD auch im schlechteren Fall immerhin zu einer Großen Koalition nach bisherigem Muster reichen würde, löst sich nun auf, Stichwort: Jamaika.
Schulz müsse nun mit aller Kraft in Nordrhein-Westfalen für Hannelore Kraft trommeln, heißt es. Doch das sei nicht ohne Risiko. Nur mit einem Sieg im sozialdemokratischen Stammland könne sich Schulz weiter berechtigte Hoffnungen auf die Kanzlerschaft machen. Weil die NRW-Wahl damit aber endgültig auch zur Schulz-Wahl wird, zum Heimspiel für den Mann aus Würselen, steht die gesamte SPD-Strategie auf dem Spiel. Bei einer weiteren Niederlage wäre der vielbemühte Schulz-Effekt endgültig Geschichte. Das räumen auch die Strategen im Willy-Brandt-Haus ein. Dann könnte sogar eine Diskussion um die Person des Vorsitzenden beginnen.
Erste Ansätze sind in den Gesprächen um die Lehren aus Kiel schon zu hören. Etwa den: „Wirkte Schulz
Es bleiben nur noch wenige Tage Zeit Noch ist das Murren vergleichsweise leise
zuletzt nicht etwas angeschlagen, war er vielleicht im Wahlkampf in Schleswig-Holstein und bisher in Nordrhein-Westfalen zu wenig präsent?“Noch ist das Murren leise. Für den Fall einer weiteren Niederlage am Sonntag wird Schulz schon vorsorglich aus der Schusslinie genommen. Wenn SPD-Ministerpräsidentin Kraft etwa sagt, dass sie nicht auf den Schulz-Effekt hoffen wolle. „Wir haben uns in Nordrhein-Westfalen immer auf uns selbst verlassen“, so Kraft.
Die SPD legt sich also schon jetzt Argumente gegen die drohende völlige Demontage ihres Hoffnungsträgers zurecht. Wenn es in Nordrhein-Westfalen klappt, liegt es an Schulz, wenn es schiefgeht, an Kraft.
Unerwartet große Hoffnungen ruhen ausgerechnet auf Sigmar Gabriel, der nach seinem Rücktritt von Parteivorsitz und Kanzler-Plänen in der SPD so beliebt ist wie nie zuvor. Doch auch der hat gestern aus terminlichen Gründen zunächst wenig zur Aufarbeitung der Klatsche im Norden oder zum Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen beizutragen. Während Martin Schulz seinen Auftritt vor den Wirtschaftsvertretern abspult, stellt Gabriel zusammen mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sein neues Buch vor. „Neuvermessungen“heißt es. Der Außenminister fordert darin ein selbstbewussteres Europa. Auch nichts, womit die Wahl in Nordrhein-Westfalen zu gewinnen ist, befürchten sie im Willy-BrandtHaus.