Mittelschwaebische Nachrichten
Bezirkstagspräsident Reichert hört auf
Der CSU-Politiker tritt bei der Wahl 2018 nicht mehr an. Doch er ist überzeugt davon, dass die Bedeutung des Bezirks weiter wachsen wird. Weil die Menschen immer älter werden
Herr Reichert, Sie sind seit 19 Jahren Bezirksrat und seit 2003 Präsident des schwäbischen Bezirkstags – ein Kommunalpolitiker mit Leib und Seele. Warum treten Sie bei der Wahl im nächsten Jahr nicht mehr an? Jürgen Reichert: 2018 ist ein guter Zeitpunkt zum Aufhören, denn der Bezirk ist in allen seinen Aufgabenbereichen vom Sozialen über die Kultur bis hin zur Fischereibereitung gut aufgestellt. Und die Verantwortung und die Belastung in dem Ehrenamt als schwäbischer Bezirkstagspräsident waren in den letzten Jahren sehr groß. Als ich anfing, war der Bezirk um ein Drittel kleiner. Daraus ist inzwischen ein riesiges Unternehmen geworden.
Wie hat sich der Bezirk Schwaben während Ihrer Amtszeit verändert? Reichert: Er hat ein gutes Image bekommen. Es diskutiert längst keiner mehr darüber, ob man die Bezirke noch braucht.
Was genau macht der Bezirk? Reichert: Nehmen Sie das Thema Psychiatrie – unsere Hauptzuständigkeit im Gesundheitswesen. Wenn man weiß, was die psychischen Erkrankungen heute für einen riesigen Raum einnehmen, erkennt man, wie groß die Bedeutung geworden ist. Wir haben über die Jahre ein flächendeckendes System geschaffen, mit dem wir psychisch Kranken ortsnah Hilfen anbieten können – von der Suchtberatung über Tagesstätten für seelisch Kranke, ambulante Dienste bis zu den Krankenhäusern für die Krisenintervention.
Welche Rolle spielt der Bezirk beim Thema Pflege? Reichert: Eine sehr wichtige. Denn die Menschen werden immer älter, dadurch werden sie aber nicht gesünder, sondern sie leben länger. Früher war man einfach bettlägerig oder konnte nicht mehr essen – heute ist die Demenz ein riesiges Thema. Auch die medizinische Versorgung in den Pflegeheimen ist anspruchsvoller geworden. Die Leute, die heute ins Heim kommen, sind sehr stark pflegebedürftig. Und die Zahl steigt immer weiter an. Außerdem gibt es immer mehr Menschen, die sich die Pflege nicht mehr leisten können. Rente und Pflegeversicherung reichen da bei weitem nicht aus. Ein Drittel der Menschen in den Pflegeheimen ist auf unsere finanzielle Hilfe angewiesen.
Und der Bereich Behindertenhilfe? Reichert: Da sind wir auf einem guten Weg. Das ist der Bereich, der finanziell am meisten gestiegen ist in den letzten Jahren. Aber wir sind immer noch in der Aufbauphase, um den Menschen ein würdiges Leben zu ermöglichen – beim Wohnen, Arbeiten und der Betreuung. Inklusion ist nicht damit getan, dass ich ein Gesetz einführe. Inklusion beginnt in den Köpfen.
Was sind die größten Herausforderungen für die Zukunft? Reichert: Eine Herausforderung an die Gesellschaft wird sein, wie wir damit umgehen, wenn sich die gute wirtschaftliche Situation ändert. Denn die gibt uns im Moment die Mittel, all diese sozialen Aufgaben zu erfüllen. Wir müssen den Menschen klarmachen, dass die Vollkasko-Mentalität nicht selbstverständlich ist, sondern dass eine große Eigenverantwortung dazugehört. Meine Angst ist, dass nach dieser wirtschaftlichen Hochphase alles selbstverständlich ist: die geringe Arbeitslosigkeit, ein durchgängiges Bildungssystem und dass es um die Ecke ein Krankenhaus gibt, wenn ich krank bin. Jeder muss sich vielmehr fragen: Wo muss ich meinen Teil für diese Gesellschaft leisten, dass dies alles erhalten bleiben kann?
All das ist doch eigentlich ein Grund, um noch weiterzumachen ... Reichert: Ich bin nächstes Jahr 66 – und mir geht es gesundheitlich gut. Das sind doch die besten Voraussetzungen dafür, um noch mal was anderes zu machen. Durch viel Arbeit verliert man auch ein Stück Lebensqualität. Als mich mein Enkel fragte, ob ich am ersten Schultag mit dabei bin, musste ich Nein sagen. Ich möchte einfach mehr Zeit für die Familie haben. Vielleicht ein paar Ehrenämter ausbauen, viel reisen. Langweilig war mir in meinem Leben noch nie.
Interview: Andrea Kümpfbeck