Mittelschwaebische Nachrichten
„Ray ist einfach ein klasse Mensch“
Raymar Morgan ist der wertvollste Spieler der Bundesliga – dabei stand er schon vor dem Karriere-Ende. Am heutigen Samstag trifft er mit Ulm mal wieder auf Ludwigsburg
Ulm Es gibt einen Fan von Ratiopharm Ulm, der ist seit dem vergangenen Samstag zehn Euro reicher. Der Mann hatte darauf gewettet, dass Raymar Morgan bei der Auszeichnung zum MVP, zum wertvollsten Spieler der Bundesliga also, lächeln würde. Der 2,02 Meter große Profi aus dem amerikanischen Bundesstaat Ohio zog tatsächlich kurz die Mundwinkel nach oben, als ihm vor dem ersten Ulmer Viertelfinalspiel gegen Ludwigsburg die begehrteste Individualtrophäe im deutschen Basketball überreicht wurde. Große Gesten sind nicht das Ding von Raymar Morgan. Große Worte auch nicht. Dafür reden andere über ihn. Der Frankfurter Trainer Gordon Herbert sagte Ende April nach der Niederlage seiner Mannschaft in der Ratiopharm-Arena lapidar: „Wir hatten Probleme mit Raymar Morgan. So wie jede andere Mannschaft auch.“
Der inzwischen für den türkischen Euroleague-Verein Darüssafaka Istanbul spielende Ex-Ulmer Will Clyburn legte am selben Tag via Twitter nach: „Mensch, kann eigentlich irgendjemand Morgan verteidigen?“Der Oldenburger Brian Qvale hat genau das schon oft versucht, aber auch der 2,10-MeterMann gesteht: „Ein Rezept gegen ihn? Ich wünschte, ich hätte eines.“Derzeit sind die Ludwigsburger Riesen auf der Suche nach einem Mittel gegen Morgan. In Spiel eins der Viertelfinalserie um die deutsche Meisterschaft haben sie keines gefunden, der MVP machte 21 Punkte und schnappte sich zehn Rebounds.
Gewonnen hat dennoch Ludwigsburg. Im zweiten Spiel war die Ausbeute von Morgan mit 13 Zählern und neun Rebounds geringfügig schlechter, gewonnen hat aber Ulm. Drei Siege sind für den Einzug ins Halbfinale notwendig, nach dem dritten Aufeinandertreffen beider Mannschaften am heutigen Samstag (18 Uhr) in der ausverkauften Ratiopharm-Arena wird eine also Matchball haben.
Die Wahl von Raymar Morgan zum MVP war etwa so überraschend wie die von Cristiano Ronaldo zum Weltfußballer des Jahres. Der 28-jährige Amerikaner trifft direkt am Brett und von der Dreierlinie, er macht die meisten Punkte in der Bundesliga und er hat den höchsten Effektivitätswert. Er ist der Prototyp eines perfekten Spielers im modernen Basketball-Zeitalter, in dem die 130-Kilo-Kolosse den kleineren, leichteren und schnellen Athleten Platz gemacht haben. Dabei wusste Raymar Morgan vor wenigen Jahren nicht, ob er jemals wieder würde professionell Sport treiben können.
Im November 2011 spielt Morgan in Israel. Bei einem Dunking reißt die Patellasehne, nach einem zu frühen Comebackversuch hängt die wichtigste Sehne im Kniebereich erneut in Fetzen. Wieder eine Operation, Morgan ist erst mal raus aus seinem Beruf als Basketballprofi. Vom frühen Morgen an jobbt er nun mehr als ein Jahr lang in einem Fitnesscenter und serviert der Kundschaft Getränke, am Nachmittag schindet er sich in der Reha. Rückblickend sagt Morgan: „Dieser Job hat vieles relativiert – vor allem meine Beziehung zum Basketball. Damit sein Geld verdienen zu können, ist ein Geschenk.“Und wenn es ihm damals nach neun Stunden hinter der Theke an Motivation für die Reha fehlt, dann ermahnt er sich selbst: „Willst du diesen Job dauerhaft machen? Nein – also halt dich ran.“
Irgendwann im Sommer 2014 kommt dieser Anruf aus Göttingen. Raymar Morgan hat keine Ahnung, wo genau das ist. Es interessiert ihn auch nicht. Hauptsache, er kann wieder Basketball spielen. „So breit hat er das ganze Jahr nicht gegrinst“, erinnert sich seine Frau Nathalie. Nach einem Jahr in der niedersächsischen Basketball-Provinz unterschreibt Morgan in Ulm und derzeit spielt er die beste Saison seines Lebens.
Mit auf den ersten Blick überschaubarem Charisma, aber mit einer vorbildlichen Arbeitsauffassung. Morgan ist oft der Erste beim Training, und wenn es mal ausnahmsweise nicht so toll gelaufen ist, dann schiebt er auch eine nächtliche Sonderschicht. Amerikaner nennen so etwas eine „Blue Collar Mentalität“und Morgans Trainer Thorsten Leibenath schwärmt: „Ray ist einfach ein klasse Mensch.“
Und ein Spieler, den auch einige ganz große Vereine gerne hätten. Der Vertrag in Ulm läuft im Sommer aus, viele Fachleute sehen Raymar Morgan in der kommenden Saison in der Euroleague, der Königsklasse des europäischen Basketballs. In Russland, Spanien oder der Türkei könnte er sein Gehalt vermutlich vervielfachen. Aber möglicherweise entscheiden bei den Gesprächen mit dem Ulmer Management ja auch die sogenannten weichen Faktoren: Umfeld, Fans, Wohnung, medizinische Versorgung.
Morgans Teamkollege Tim Ohlbrecht hat dieser Tage bis 2020 verlängert und gesagt, dass sich nach der Geburt seines jetzt zehn Wochen alten Sohnes die Wertigkeiten in Richtung der weichen Faktoren verschoben haben. Raymar und Nathalie Morgan erwarten in diesem Sommer ebenfalls Nachwuchs.
„Mensch, kann eigentlich irgend jemand Morgan verteidigen“?