Mittelschwaebische Nachrichten
Wohnen ohne Obergrenze
Trotz der Katastrophe von London: Ohne Hochhäuser wird sich die Wohnungsnot in den Städten kaum beheben lassen. Aber mit der Höhe steigt der Preis
Katastrophe, Tragödie, SuperGAU – ganz gleich, von welcher Warte man den Brand im Londoner Hochhaus Grenfell Tower betrachtet, furchtbar war er allemal. Neben dem menschlichen Unglück handelte es sich bau- und sicherheitstechnisch um den größten anzunehmenden Unfall. Dass Menschen in einem Hochhaus verbrennen, so etwas darf nicht passieren. Aber es ist passiert. Sind jetzt Hochhäuser durch, kann und will man sie nicht mehr bewohnen (immerhin wurden in London auf die Schnelle mehrere Gebäude evakuiert), kann und will sie niemand mehr bauen?
Nein, das wird mit Sicherheit nicht der Fall sein. Menschen steigen ja auch in Flugzeuge, obwohl immer mal wieder eines abstürzt, sie buchen Kreuzfahrten, auch wenn die „Titanic“einst unterging, sie lassen sich mit dem Bus kutschieren, obwohl gerade einer ausgebrannt ist, und außerdem sind auch schon in niedrigen Häusern Bewohner einem Brand nicht entkommen.
Das Unglück von London wird nichts daran ändern: Das Hochhaus hat Konjunktur. Der Ruf nach neuen und mehr Wohnungen schallt lautstark durch die Republik, seit die Menschen verstärkt in die Großstädte und Ballungsräume ziehen; eine neue Wohnungsnot wurde ausgerufen, und die, so heißt es, könne ein bestimmter Gebäudetyp besonders gut beseitigen – das Hochhaus. In Deutschland ist das laut Baurecht ein Gebäude von 22 Metern Höhe und mehr. Bietet es die Lösung des Wohnungsproblems, die Antwort auf Wohnraumknappheit, ist es zudem auch eine ökologisch angesagte Bauform, und schließlich sogar stylishe Wohn-Art?
Eine lukrative Investition ist es natürlich auch: „Wir müssen dichter und höher bauen“, fordert denn auch der Augsburger Immobilienhändler Wolfgang Egger als einer von vielen seiner Branche, und Andreas Ibel, Präsident des Bundesverbandes Freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen, sekundiert: „Deutschland hat im internationalen Vergleich eine ganz geringe Baudichte.“Die Stadtsoziologin Christine Hannemann findet ebenfalls, dass das Hochhaus als Wohnform Zukunft hat, dass angesichts der derzeitigen Binnenmigration die Städte einfach dichter bebaut werden müssten.
Nachverdichtung – das ist die von Stadtplanern seit langem propagierte Strategie gegen Wohnungsnot wie auch gegen Flächenverbrauch. Und die radikalste Form der Verdichtung ist zweifellos ein vielstöckiges Gebäude, weil es Flächen spart und damit natürliche Ressourcen schont. Es gibt freilich auch behutsamere Methoden der Nachverdichtung – Umbau, Erweiterung und Ergänzung bestehender Bauten, Schließung von Baulücken, neue Nutzung aufgegebener Gebäude wie etwa früherer Kasernen.
Doch für das Hochhaus spricht, dass sich, wenn man in die Höhe statt in die Breite baut, auf relativ geringer Grundfläche viele Wohnungen aufeinander stapeln lassen. Die Zersiedelung von Landschaft könnte gestoppt werden – ein wichtiges Versprechen in einem so dicht besiedelten Land wie Deutschland. Wenn man die teppichartig ausgebreiteten Einfamilienhaus- oder Reihenhaus-Siedlungen anschaut, die von Stadtzentren ins Umland, von Dorfkernen in die Landschaft wuchern, dann kann man durchaus Angst bekommen, bei der aktuell grassierenden Bauwut könnte demnächst jedes freies Fleckchen Grün zugebaut sein. Metropolen wie München, Berlin und Frankfurt wachsen, wollen jeweils mindestens 2500 neue Wohnungen in nächster Zeit bauen – man kann sich leicht ausrechnen, wie viel Fläche dafür nötig wäre bei der üblichen Traufhöhe von etwa 20 Metern, und wie viel man bei einer Höhe von 100 Metern einsparen kann.
Doch wie dicht können und wollen die Menschen beieinander wohnen, wie viel Abstandsflächen sind als friedenssichernde Maßnahmen nötig? Man hat oft genug gehört von sozialen Konflikten und Verwahrlosung in den Wohnsilos etwa des Märkischen Viertels in Berlin, in München-Neuperlach und anderswo, und als Ursachen der Probleme sah man zweierlei: den geringen Freiraum speziell für Kinder und Jugendliche und die Konzentration der vielen Arbeitslosen und Geringverdiener, die in den hochgetürmten Billigwohnungen untergekommen waren und in dieser engen Wohnform zu wenig Abstand vonei- finden konnten. Wohnblöcke hatten bisher ein schlechtes Image, und je höher sie gebaut waren, desto schlechter.
Hinzu kommt die dem Menschen innewohnende Angst, den festen Boden unter den Füßen zu verlieren. Als man im 19. Jahrhundert in New York die ersten Hochhäuser bauen wollte, stießen die Architekten auf erheblichen Widerstand. Die potenziellen Nutzer wollten weder viele Treppen steigen noch sich Aufzügen anvertrauen; sie hatten Angst vor einem Absturz. Erst als die Sicherheitsfang-Vorrichtung für Fahrstühle erfunden war, hatte auch der Hochhausbau eine Chance. Und als dann auch noch die leichte Stahlskelett-Bauweise die schwere Konstruktion aus Mauerwerk ablöste und vor allem, als die Grundstückspreise in Manhattan immer weiter stiegen, entstanden in rascher Folge die legendären Skyscraper, die Wolkenkratzer: Fuller Building (1902), Woolworth Building (1913), Chrysler Building (1929) und viele andere bis zum Trump Tower wuchsen in den Himmel, erst in New York und Chicago, dann in der ganzen Welt.
Der Wolkenkratzer war die zentrale Bauerfindung des 20. Jahrhunderts. Auch in Deutschland musste jede Stadt ihr Hochhaus haben, wenigstens ein kleines: Die Kölner bauten schon 1925 in die Höhe, 17 Etagen und 65 Meter misst ihr Hansahof in expressionistischer Klinker-Architektur. In Augsburg konnte man sich den Wunsch nach einem hohen Haus erst 1972 erfüllen; dann aber mit dem immerhin 115 Meter hohen Hotelturm nach Chicagoer Vorbild. Er überragt eines der bekanntesten Bauwerke der Fuggerstadt, den Perlachturm, um 45 Meter, und wie dieser ist er Ausdruck von Bürgerstolz. Denn so wie die Bürger der Frühen Neuzeit mit dem Perlachturm die Domtürme und damit den Machtanspruch des Bischofs übertrumpfen wollten, so zeigten auch die modernen Augsburger jetzt mit dem „Maiskolben“wirtschaftlichen Erfolg und den Triumph der Technik.
Der Drang nach oben, das „imnander mer höher“im Bauen hat ein lange Tradition und war immer Ausdruck von Stärke und Macht – man denke an die Geschlechtertürme in toskanischen Städten wie San Gimignano. Auch das moderne Hochhaus ist Statussymbol und Machtausdruck – und sehr angreifbar, wie die Welt mit dem Terroranschlag auf die Türme des World Trade Center am 11. September 2001 erfahren musste.
Die amerikanischen Kathedralen des Business erreichten bis dahin ungeahnte Höhen – das 1931 erbaute Empire State Building galt bis 1972 mit seinen 381 Metern als höchstes Gebäude der Welt. Heutige Wolkenkratzer ragen freilich weit darüber hinaus – das neue World Trade Center misst 541 Meter, der Shanghai Tower 632, der Chalifa-Turm in Dubai 828. Bei Höhen über 300 Meter jedoch werden die Nachteile des Hochhausbaus evident: Die Kosten für die Konstruktion klettern mit jedem Meter, weil zum Beispiel die Windanfälligkeit ausgeglichen werden muss; ebenso steigen die Energiekosten, etwa für Klimaanlagen, weil man die Fenster nicht öffnen darf. Noch gravierender sind die städtebaulichen Nachteile – die langen Schatten, welche die Türme auf Nachbargebäude, Straßen und Plätze werfen; die Störung der Sichtachsen und die Dominanz der Riesen über die gewachsene Umgebung.
Vor allem aus städtebaulicher Sicht ist man in Deutschland zurückhaltend beim Hochhaus-Bau. Frankfurt, das als die deutsche Wolkenkratzer-Metropole gilt, bleibt mit seiner Skyline weitgehend unter der 300 Meter-Marke. Berlin hat seit kurzem mit dem Upper WestHotel immerhin ein 118 MeterHaus. In München dagegen haben sich die Bürger, nachdem der Uptown-Büro-Tower mit 146 Metern Höhe errichtet worden war, mehrheitlich für eine Begrenzung des Höhenwachstums entscheiden. Kein Neubau darf höher als 100 Meter werden; die Türme der Frauenkirche sollen nicht überragt, der Föhn-Blick auf die Alpen nicht gestört werden. Dagegen maulen Architekten und Investoren seit dem Bürgerentscheid von 2004 – mal sehen, ob die derzeitige Wohnungsknappheit ihren hochfliegenden Plänen dienlich ist.
Der Wandel der Lebensformen könnte den Hochhaus-Befürwortern zuspielen. Während Familien, die es sich leisten konnten, in den vergangenen Jahrzehnten gern ins Umland zogen und sich im „Speckgürtel“der Stadt ein großzügiges Einfamilienhaus bauten, bleiben sie jetzt lieber in der Stadt, am liebsten mittendrin. Auch betuchte Senioren und kinderlose Gutverdiener suchen das urbane Lebensgefühl im 15. oder 20. Stockwerk – weit oben über dem Verkehrslärm und mit grandiosem Ausblick auf die Stadt, vielleicht noch mit grüner Dachterrasse. Und wenn man unten aus dem Haus tritt, ist man gleich drin im Kultur-, Kneipen- oder Konsumleben. Nachdem das Industrieloft eine Zeit lang Mode war, sucht der coole Stadtbewohner jetzt offenbar nach dem Apartment in luftiger Höhe. Für solch zahlungskräftige Kunden bieten die Baufirmen dann gern auch noch den Concierge, der den Zugang bewacht, sowie ganz individuell gestaltete Wohnungsgrundrisse an; die Preise sind entsprechend. Im Marco Polo Tower in der Hamburger Hafen-City, mit seiner spiralförmig gedrehten Architektur bereits eine Ikone des neuen Hochhausbaus, soll der Quadratmeter Eigentumswohnung 11000 Euro kosten. Die geldschweren Bewohner zeigen, dass das Hochhaus wieder ein Statussymbol ist – für die Happy Few einer Metropole. Auch andere Städte planen luxuriöse Wohntürme mit werbekräftigen Namen: Stuttgart die „Cloud Nr. 7“, Berlin den „Gehry-Tower“und „Living Levels“, Frankfurt den „WestsideTower“.
Doch solche Luxusprojekte werden die Wohnungsknappheit nicht beseitigen. „Die braucht niemand in den Städten, das sind reine Immobilieninvestitionen“, sagt die Stadtsoziologin Christine Hannemann. Die Stuttgarter Professorin plädiert durchaus für Hochhäuser, aber sie müssten gut in die Stadtlandschaft integriert und familienfreundlich geplant werden. Das heißt, die Wohnungen müssen zu erschwinglichen Preisen erhältlich sein, im Inneren der Häuser wie auch drum herum müssen Spielgebiete für Kinder und Freiräume für Jugendliche vorhanden sein. Und sicher müssen sie natürlich auch sein, die Hochhäuser.
Wie dicht wollen Menschen beieinander wohnen? Das urbane Lebensgefühl weit oben über dem Lärm