Mittelschwaebische Nachrichten
Servieren Sie mal Ihren Garten!
Wiesen und Beete sind Freiluft-Frischtheken. Die Unkrautküche bereichert den Speiseplan aber nicht nur geschmacklich
Können hunderte Schnecken irren? Die Funkie, gestern noch liebevoll im Garten eingesetzt, streckt einem am nächsten Morgen nichts mehr entgegen als dürftige Stängel. Die verhassten Schleimviecher haben sie niedergemacht, als wäre sie eine Delikatesse.
Ähm, wie bitte? Ist sie auch? Ja, sagen Frederik und Heike Deemter – Physiotherapeuten, Buchautoren und Besitzer eines Essgartens, aus dem sie Lebensmittel ernten, die andere nur als Zierpflanzen schätzen. Funkien, über einige Ecken verwandt mit dem Spargel, können als Wrap und als Gemüse serviert werden, mit den Blüten lassen sich Salate garnieren. Die Blätter der Stockrose wiederum ergeben eine außergewöhnliche Zutat für Lasagne und Brennnesseln – mit einem Teig aus Dinkelmehl und Buttermilch verarbeitet werden sie zum feinen Brot.
Aber warum haben sich diese Pflanzen auf unserer Speisekarte nicht so durchgesetzt wie Kopfsalat, Kohl oder eben der Spargel? Eine mögliche Antwort hat Anna Holzer, die hoch über den Dächern von Matrei im österreichischen Osttirol den Strumerhof führt: „Wir haben irgendwann einfach manche Pflanzen weiterkultiviert und den Rest links liegen lassen. Vielleicht, weil man sich nicht allen widmen konnte.“
Anna Holzer tat’s irgendwann doch, Auslöser war eine Wildkräuterführung, an der sie mit Anfang 20 teilnahm. „Das war damals eine Zeit, in der man dachte, dass Chemie und Industrie alles können.“Anna Holzer wollte einen Kontrapunkt setzen und holte den Garten in die Küche. Internet gab es damals noch nicht und die nächste Bücherei war weit weg. „Ich hab’ viel probieren müssen“, sagt Anna Holzer. Doch wahrscheinlich hat sie gerade so ihr Gespür für den Geschmack der Wildkräuter entwickelt.
Was sie ihren Gästen serviert, ist „durch und durch durchkräutert“: Unkrautsuppe mit Spitzwegerich und Giersch, Wiesenlasagne mit Brennnesseln und Sauerampfer, Lamm, in Bergheu gebraten, Rosen-, Salbei- und Hollersirup und immer wieder Blüten, zur Dekoration. Weil so mancher Gaumen nur an Nullachtfünfzehn-Hollandgrün gewöhnt ist, dosiert die Chefin des Strumerhofs mit Fingerspitzengefühl: „Es soll besonders schmecken, aber eben nicht abartig, sonst schreckt man die Leut’ nur ab.“
„Unkrautküche“ist außergewöhnlich und noch dazu günstig. Von Frühjahr bis weit in den Herbst hinein kann man sich in Wald, Wiese und Garten bedienen – vorausgesetzt, man kennt sich aus. Denn wie Pilze haben auch viele wohlschmeckende Kräuter giftige Doppelgänger. Bärlauch mit seinem leichten Knoblauchgeschmack zum Beispiel sieht ähnlich aus wie die giftige Herbstzeitlose oder das Maiglöckchen, Rucola kann mit Kreuzkraut verwechselt werden. Buchautorin Diane Dittmer (Wald- und Wiesenkochbuch) empfiehlt Neulingen deshalb eine Kräuterführung zum Einstieg. „Es gibt immer mehr Angebote in diese Richtung.“
Ein Grund dürfte sein, dass sich viele Menschen wieder stärker dafür interessieren, was auf ihre Teller kommt. „Die Leut’ wissen heutzutage viel mehr über die Natur und Pflanzen als noch vor einigen Jahren“, hat Anna Holzer festgestellt. Als sie selbst mit den Kräutern anfing, wurde sie belächelt, bis heute spricht sie selbst augenzwinkernd von ihrer „Hexenkuch’“. Doch immer häufiger fragen Gäste abends nach dem Essen im Strumerhof nach den Zutaten. Am nächsten Tag sieht man sie dann durch sattgrüne Almwiesen wandern – den Blick aufmerksam auf den Boden gerichtet.
Gesammelt wird, das versteht sich fast von selbst, nur dort, wo die Kräuter unbelastet sind: weit weg von viel befahrenen Straßen oder häufig gedüngten Feldern; weit weg auch von Wiesen, auf denen Hunde ihr Geschäft verrichten. Die ersten Ausflüge mit dem Sammelkorb können lange dauern: Der Sammler muss erst das Gefühl dafür entwickeln, wie Wildkräuter aussehen und in welchem Umfeld sie wachsen. Wer fündig wurde, sollte sich langsam herantasten: „Am einfachsten ist es, sich ein Butterbrot zu streichen und Blüten und kleine Blättchen draufzugeben“, sagt Anna Holzer. Ein wenig Frauenmantel, der nur wenig Geschmack hat, dem aber eine blutreinigende Wirkung zugeschrieben wird, ein wenig Schafgarbe, die krampflösende Bitterstoffe beinhaltet, einige Löwenzahnblätter, die die Bauchspeicheldrüse anregen. „Die kann man einfach auch beim Spazierengehen pflücken und knabbern“, empfiehlt Anna Holzer.
Mit Wildkräutern und Heilpflanzen kehrt ein uraltes Wissen in unsere Küchen zurück. In ihrem Buch „De Plantis“(Über die Pflanzen) listete Hildegard von Bingen im 12. Jahrhundert rund 230 Pflanzen und Kräuter samt ihrer Wirkung auf. Der „Gart der Gesundheit“, wohl eines der ersten gedruckten Kräuterbücher, galt im 15. Jahrhundert als das umfassendste Werk zu diesem Thema, quasi „die Mutter aller Kräuterbücher“. Während sich die Menschen zu dieser Zeit hauptsächlich auf die Heilwirkung der Pflanzen fokussierten, steht heute auch der Geschmack im Mittelpunkt. Schließlich kann, was gut für einen ist, ganz nebenbei auch schmecken.
Wer beim nächsten Streifzug durch den Garten auf Löwenzahn und Co stößt, wird diese Pflanzen nun bestenfalls mit anderen Augen sehen. Und falls noch Funkien da sind: Als Wrap wird man damit mit ziemlicher Sicherheit jeden Gast überraschen. Man muss ja nicht gerade gratinierte Schnecken dazu reichen…