Mittelschwaebische Nachrichten
Schlittert die Pflege in die Katastrophe?
Nur ein Drittel der Pflegebedürftigen lebt in Bayern in einem Heim. Um die meisten Alten kümmern sich ihre Angehörigen. Warum sich das künftig wohl ändern wird, welche Probleme es gibt und wofür eine Münchnerin kämpft
München Wenn Vater, Mutter oder der Partner zum Pflegefall werden, denken viele Angehörige zunächst nicht groß nach. Sie sehen Bedarf und packen an, wo sie können. Fortan sind sie Manager über gleich zwei Leben – und organisieren Essen, Haushalt, Kleidung oder Arztbesuche für ihre Nächsten mit. Ein paar Tage später sind sie mit komplizierten rechtlichen Rahmenbedingungen rund um Pflegeversicherung und Vollmachten konfrontiert. Ein Bürokratie-Dschungel, der Zeit und Mühe beansprucht und in dem sich Angehörige alleingelassen fühlen. Und: Diejenigen, die zu Hause ihre Angehörigen pflegen, werden in Zukunft weniger werden. Dabei sind sie das Rückgrat des Systems. Die Pflege steht vor einer Wende.
In Deutschland waren zur letzten Erhebung des Statistischen Bundesamts Ende 2015 knapp 2,9 Millionen Menschen pflegebedürftig. 783 000 von ihnen wurden in einem Heim betreut. Die Mehrheit, knapp 2,08 Millionen, wurde zu Hause betreut. Bayernweit waren zum selben Zeitpunkt 348 253 Menschen in Pflege. Auch hier wohnte nur ein Drittel in Heimen. Um 241 290 Pflegebedürftige kümmerten sich Angehörige.
Und gerade die haben mit Schwierigkeiten zu kämpfen: Angebote wie die Kurzzeitpflege, die im Gesetz für Pflegebedürftige vorgesehen sind, können sie nicht in Anspruch nehmen, weil diese sehr knapp und oft ausgebucht sind. Der freie Markt, auf dem die Pflegeanbieter agieren, gibt nicht immer das her, was gebraucht wird. Verbände beklagen die Missstände seit Jahrzehnten. Sie sprechen von einem „Pflegenotstand“und fordern eine grundlegende Reform des Systems. Der Sozialverband VdK hat 2014 sogar mit einer Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht versucht, Mindeststandards zu erreichen, um die Rechte der Pflegebedürftigen zu sichern. 2016 lehnte das Gericht die Beschwerde ab. 67-Jährige ihre Mutter im Alter begleitet, sie sieben Jahre lang zu Hause gepflegt – und sich oft gewundert, wie wenig Mitspracherechte Pflegebedürftige und deren Angehörige bekämen. Bührlen mahnt: „Die Zeit der stillen Helden geht zu Ende.“Mit dem Pflegesystem konnte es ihrer Meinung nach nur so lange gut gehen, weil bis jetzt vor allem die Kriegsgeneration gepflegt habe, die traditionsbewusster gewesen sei.
Nun aber sei die Nachkriegsgeneration an der Reihe – und die verstehe Pflege als Wirtschaftssegment. „Mittlerweile arbeiten in den meisten Familien beide Partner. Sie werden weniger Zeit für Pflege aufwenden, weil sie sie schlicht nicht mehr haben.“Das Pflegesystem werden sie dann auch stärker hinterfragen, glaubt Bührlen: „Wenn sie für eine Dienstleistung bezahlen, wollen sie wissen, was dabei herauskommt.“
Bührlen selbst gibt sich nicht damit zufrieden, den Generationenwandel nur zu beobachten. 2010 hat sie in München die Initiative „Wir! Stiftung pflegender Angehöriger“gegründet, um deren Rechte in Politik und Gesellschaft zu stärken. „Immer noch wird zu viel für oder über pflegende Angehörige gesprochen, zu selten werden sie selbst mit ihren Anliegen gehört“, beklagt sie. Dabei nimmt sie auch die Betroffenen in die Pflicht. Die sollten nicht auf Angebote von Staat oder Wirtschaft warten, sondern selbst Bedarf melden und Verbesserungen einfordern. Und das beginne schon auf ganz kleiner Ebene, sagt Bührlen: „Wir müssen klar sagen, was wir brauchen – sei es in Heimbeiräten, Bürgersprechstunden oder in Gruppen mit anderen Pflegenden.“
Bührlen selbst vertritt die Rechte pflegender Angehöriger nicht mehr nur als Stiftungsgründerin, sondern mittlerweile auch im Beirat für Vereinbarkeit von Pflege und Beruf des Bundesfamilienministeriums. Aber natürlich, fügt sie an, sei dieses Engagement auch eine Zeitfrage. „Das kann nicht jeder leisten.“Pflegende Angehörige hätten meist genug zu tun. Bewusst habe sie ihre Stiftung erst gegründet, als ihre Mutter gestorben war. „Doch wenn nur ein paar Menschen ihre Stimme erheben, werden wir auch gehört.“
Angebote für Pflegebedürftige sind knapp