Mittelschwaebische Nachrichten
Flossen hoch
British Columbia ist eines der atemberaubendsten Umweltreservate der Welt. Doch wo Touristen Wale, Bären und Bäume beobachten, fordern seit Jahrzehnten Menschen ihre Rechte ein
Brett kneift die Augen zusammen und rast hinaus auf den von Küstenfelsen und Inseln zerstückelten Pazifik. In einer Hand das Steuer, mit der anderen gestikuliert er, als müsse er Möwen von seinem Abendessen verscheuchen. Brett Soberg hat einen Job, um den ihn viele Menschen beneiden. Er arbeitet für Eagle Wing Tours am westlichen Ende Kanadas, wo die schneeweißen Gipfel der Olympic Mountains aus den USA bis zu den Küsten Kanadas herüberleuchten, auf halber Strecke zwischen Vancouver und Seattle. Brett sammelt am Fisherman’s Wharf in der kanadischen Provinzhauptstadt Victoria, British Columbia, Touristen ein und verspricht: Heute werden Sie Ihren ersten Wal sehen!
Das Boot tuckert durch die kaum nennenswerten Wogen der Meeresstraße Juan de Fuca. Brett streckt seinen linken Zeigefinger aus, wenn links ein Seehundkopf aus dem Wasser blinzelt, streckt seinen rechten Zeigefinger aus, wenn rechts der Weißkopfseeadler am Himmel seine Kreise zieht. Irgendwann ruft er: „Look at 2 o’clock! Woohoo!“Aus dem grauen Nichts taucht die Schwanzflosse eines Buckelwals auf. Brett jubelt in diesem Moment wie Seefahrer bei der Entdeckung Neulands. Diesmal ist er der Erste, der durch das Mikro jenen Funkspruch absetzt, der innerhalb weniger Minuten eine Flotte an schnurrenden Whale-Watching-Booten aus allen Himmelsrichtungen anlockt.
Geht es um die Sichtung der Wale, sind er und die anderen Whale Watcher Partner – im Wettstreit um die zahlenden Touristen Konkurrenten. Es treffen ein: der Prince
of Whales im friesennerzgelben Schlauchboot mit Wortwitz, die zweistöckige Barkasse der Orca Spirit Adventures, die im Internet mit ihrer alleinigen Alkohollizenz wirbt und die massige Touri-Yacht aus den USA, die ihre Gäste abwechselnd mit Wallauten und Walwissen vom Band beschallt. Alle sind ge- kommen, während die Schwanzflosse des Buckelwals gemächlich auftaucht und wieder verschwindet.
Bloß keine falschen Vorstellungen: Wenn der Wal erscheint, sieht das nicht aus wie im Film Free Willy und erst recht nicht wie die umstrittenen Shows in Delfinarien. Wale in Freiheit springen nur für Ferngespräche, haben Wissenschaftler herausgefunden. Der Wal springt immer dann aus dem Wasser, wenn eine Gruppe seiner Art mehrere Kilometer weit entfernt ihre Bahnen zieht und ein einfacher Schwanzflossenschlag nicht mehr ausreicht, um sie zu erreichen. Dann klatscht er mit dem Rücken auf der Wasseroberfläche auf. Kawusch. Während einer Touristentour müsste man schon unfassbares Glück haben, dass ein Orca den Willy macht.
Der Buckelwal, der erst vor unserem Boot, später an den Flanken erscheint, macht nicht den Eindruck, als würde er gern in die Weite kommunizieren. Er zeigt abwechselnd seinen Rücken und seine Schwanzflosse, verschwindet nervenzehrende Minuten lang in der Tiefe und taucht dann an einem Punkt auf, an dem man nicht unbedingt mit ihm rechnet. Genau in diesem Moment schreit der Erste auf dem Boot: „Dadada! Wow!“Oder von den benachbarten Booten: „Look-looklook!“Und selbst Brett hat in den Jahren des Walbeobachtens seine Leidenschaft nicht verloren.
Er wirkt immer noch wie ein Kind, das zum ersten Mal etwas unglaublich Großes sieht. Nur mit dem Unterschied, dass Brett ganz genau weiß, was um ihn herum passiert. Seelöwen, die ihre Streitigkeiten auf ihrer Single-Männer-Insel Race Rocks mit den Argumenten „No! No! No! No!“austragen (frei nach den anmaßenden Kehllauten) – bis der Alphabulle zum Kampf röhrt. Fische, die so verwirrt und vergesslich sind, dass sie sich von den Möwen in die Falle locken lassen und wenige Zentimeter unter der Wasseroberfläche ihr Leben wie im Flug verlieren. Das alles weiß Brett. Nur Gedankenlesen könne er nicht, sagt er. „Das kann meine Frau bestätigen.“
Wer nach British Columbia reist, will Wildnis sehen. Killerwale, Schwarzbären, Riesen-Lebensbäume. Zweifellos ist jene Provinz, in die Deutschland fast dreimal hineinpasst, die aber mit 4,4 Millionen Einwohnern gerade einmal halb so viele Menschen wie Österreich beheimatet, ein Naturereignis. Eine augenscheinlich endlose Landschaft, in der der Mensch die Unterwerfung seiner Umwelt nicht bis zum Allerletzten vorangetrieben hat. Wenn man sich vom ersten Rausch erholt hat, in den die ewigen Wälder, die atemberaubenden Küstensilhouetten und Bergketten den Besucher versetzen, wird aber auch deutlich, dass British Columbia nicht nur ein Paradies, sondern auch Schauplatz eines immer noch andauernden Gesellschaftskonflikts um Kolonialisierung und deren Folgen ist, eine Debatte um Ausgleichszahlungen, Naturschutz und Öko-Tourismus, bei dem nun auch die indigenen Völker mitmischen.
Tyrell sagt, in seiner Sprache gebe es kein Wort für „wild“. Alles sei Natur. Tyrell, 19, stellt sich mit seinem englischen Namen vor, bevor er in das Kanu steigt, das sein Volk in Handarbeit aus einem einzigen Stamm der Red Cedar herausgeschlagen hat. Zehn Menschen finden darin Platz, und Tyrell gibt knappe Anweisungen, wie die Gruppe aus dem Hafen des Aussteiger- und Surferparadieses Tofino, 200 Kilometer nordwestlich von Victoria, aber immer noch auf Vancouver Island, hinaus paddeln kann. Rund 200000 Mitglieder der First Nations leben in British Columbia. Ein Teil der Stämme im Nordwesten wird unter dem Namen Nuu-cha-nulth zusammengefasst, was so viel bedeutet wie: „Alles entlang der Berge und des Meeres.“Tyrells Stamm heißt Tla-o-qui-aht, „Volk, das anders ist, als es einst war“.
Er vertaut das Kanu an einem schattigen Strandabschnitt von Meares Island. Jener Insel, um die sich Anfang der neunziger Jahre einer der größten ökologischen Proteste in der Geschichte Kanadas entfachte, als First Nations, kanadische und US-amerikanische Ökoaktivisten den Holzfällern den Weg versperrten. Meares Island wurde bereits 1984 zu Beginn der Auseinandersetzung von Tyrells Stamm und seinen Mitstreitern zum Tribal Park deklariert. Die Tla-o-qui-aht sollten über die Insel mit ihren Süßwasserquellen und den uralten Wald herrschen. Doch die Holzindustrie, von der zahlreiche Menschen zu jener Zeit in Tofino und den umliegenden Ortschaften lebten, ließ sich nicht darauf ein. Mehr als 850 einheimische und auswärtige Aktivisten hat die Royal Mounted Police im Jahr 1993 inhaftiert. Am Ende siegten die Aktivisten. Die Insel steht unter Naturschutz – und unter der Hoheit von Tyrells Stamm.
Über Meares Island führt ein schmaler Holzpfad, der an einer der mächtigsten aller Western Red Cedars endet. Mehr als 2000 Jahre soll der Riesen-Lebensbaum gewachsen sein, der zu dem Zeichen des Protests gegen die Abholzung ernannt wurde. Tyrell erzählt wenig über den Kampf mit der kanadischen Regierung und der Holzwirtschaft, lieber berichtet er von den Gepflogenheiten seines Stamms. Sie bedanken sich beim Baum, dass er gewachsen ist, bevor sie Streifen der Rinde abziehen oder für den Bau der Kanus fällen. Sie entschuldigen sich beim Tier, wenn sie es töten.
Als Tyrell eine gelbe Schnecke am Wegesrand sieht, erzählt er eine Geschichte: Als die Konferenz der Tiere in Angst verfiel, dass der Mensch bald einen Krieg beginnen könnte, haben sie den Adler als Späher in die Luft geschickt. Er solle Land und Berge beobachten, um die Tiere zu warnen, wenn der Mensch auf dem Vormarsch ist. Dummerweise hatte der Adler schlechte Augen. Er konnte die Weite sehen, aber nicht die Details am Boden. Also erklärte sich die Bananenschnecke bereit, ihre Augen zu opfern, die jedes noch so kleine Korn der Erde erkennen. Seitdem hat der Adler seine sagenumwobenen Augen. Die Schnecke ist blind – und der Mensch ist trotzdem gekommen. Und da ist er nun. Der eine, der mindestens seit der letzten Eiszeit auf jenem mittlerweile kanadischen Boden lebt und am Ende seines Lebens glaubt, in den Transformationsprozess der Natur zurückzukehren. Der andere, der im ausgehenden 18. Jahrhundert auch diesen Winkel der Welt zum transeuropäischen Handelsplatz erklärte, Bodenschätze raubte, Völker unterwarf und seit kurzer Zeit in British Columbia eine neue Ära der Vernunft einläutet.
Der Öko-Tourismus ist in Kanada einen Deal mit beiden Seiten eingegangen. Immer mehr junge Ureinwohner verdienen durch Abenteuertrips und Merchandise – Wale, Bären, Raben – ein Zubrot oder richtig gutes Geld für sich und ihr Reservat. Europäischstämmige Kanadier verzichten wiederum vielerorts auf die Ausbeutung der Natur, legen Nationalparks an wie den Pacific Rim und versprechen, dass die weltoffene Westküstenmetropole Vancouver die sauberste Stadt der Welt werde. Vielleicht zeichnet sich in dieser vorsichtigen Annäherung zwischen Kapitalismus und althergebrachter Spiritualität jener Prozess ab, der sich seit Jahren in der westlichen Welt andeutet. Der Glaube an das Heilsversprechen des ewigen Wachstums schwindet. Das Umweltgewissen gelangt wieder an die Oberfläche des gesellschaftlichen Denkens. Wie ein Wal, der lange Zeit untergetaucht war.
Nur mit viel Glück macht ein Orca den Willy
Am Ende siegten die Aktivis ten über die Holzindustrie