Mittelschwaebische Nachrichten
Essen gehen? Geht nicht
Der Vater einer schwerbehinderten jungen Frau wendet sich an unsere Zeitung. Er möchte auf Schwierigkeiten hinweisen, die Behinderten und ihren Familien im Alltag begegnen. Dazu bewegt hat ihn der Besuch eines Gasthofs
Landkreis Leonie Kehm liebt Trauben. Andere Menschen gehen in den Supermarkt und kaufen sich eine Rebe. Sie reißen die Früchte ab, führen sie zum Mund und kauen. All das kann die junge Frau aus Unterelchingen (Landkreis Neu-Ulm) nicht, weil sie schwerbehindert ist. Ihr Vater Rainer Kehm schält die Trauben, entkernt sie und zerkleinert das Fruchtfleisch. „So etwas machen nur Eltern“, sagt er.
Die meisten Dinge, die Menschen in ihrer Freizeit genießen, bleiben Leonie Kehm wegen ihrer Behinderung verwehrt. Das Essen gehört nicht dazu. „Leonie isst mit Leidenschaft“, sagt ihr Vater. Umso mehr stört ihn, was er und seine Familie am Ostersonntag erlebt haben. Leonie, ihre Eltern und die Großmutter hatten für diesen Feiertag einen Tisch in einem Gastronomiebetrieb im Landkreis Günzburg reserviert.
In einem Schreiben an unsere Zeitung berichtet der Vater über das, was ihn so verärgert hat. Er habe die Bedienung drei Mal gebeten, das Essen zu pürieren, weil seine Tochter es sonst nicht essen könne. Die Antwort blieb die gleiche: In der Küche gebe es kein Püriergerät für einzelne Portionen. Die Familie war zum ersten Mal dort zu Gast, doch in anderen Gaststätten habe man sich stets bemüht, eine Lösung für die Familie zu finden. Dort habe er diesen Eindruck nicht gehabt, klagt der Vater. Erst als er drohte, an die Öffentlichkeit zu gehen, sei der Wirt zum Tisch gekommen.
Er habe auf die hohe Zahl der anderen Gäste verwiesen und erneut erklärt, dass das Pürieren einzelner Mahlzeiten in der Küche technisch nicht möglich sei. Dann habe er es immerhin dennoch versucht, doch das Essen sei trotzdem zu grob für Leonie gewesen. „Die Situation, dass meine Tochter als Einzige der vielen Gäste nichts essen konnte, war unmöglich.“Diese Erfordernisse vorab anzumelden, wäre zwar möglich gewesen, doch ein Restaurantbesuch müsse auch so möglich sein, meint Kehm. Einige Tage sind seit diesem Ereignis vergangen. Die Krankenschwester, die Leonie Kehm in der Friedrich-von-Bodelschwingh-Schule Ulm für Menschen mit Behinderung begleitet, hat sie gerade in das Haus ihrer Familie nach Unterelchingen gebracht. Nun sitzt Leonie in ihrem Rollstuhl neben ihrem Vater Rainer Kehm auf der Terrasse. Löffel für Löffel füttert er sie mit einem Brei.
Leonies Mutter, Angela Kehm, setzt sich an den Gartentisch dazu. Sie erzählt, dass die Behinderung ihrer Tochter, das recht unbekannte Rett-Syndrom, erst erkannt wurde, als sie bereits zwei Jahre alt war. Der Verlauf war tragisch: Leonies Entwicklung als Säugling war zwar verzögert, doch immerhin machte sie Fortschritte, bis sie ein Jahr alt war. Sie lernte, ihre Eltern mit „Mama“und „Papa“anzusprechen.
Dann aber begannen diese Fähigkeiten wieder zu verschwinden. Heute kann Leonie sich kaum noch bewegen. Auch ihr Sprechvermögen verschwand völlig. Dieser Verlauf ist typisch für das Rett-Syndrom, einer tief greifenden Entwicklungsstörung, die dem autistischen Spektrum zugerechnet wird.
Mit steigendem Alter und auch entsprechender Größen- und Gewichtszunahme wurde es schwieriger, die junge Frau zu pflegen. Etwa zwei Drittel des Tages sollte sie eigentlich eigentlich von einer Pflegekraft betreut werden. Die Mittel dafür hat die Krankenkasse bewilligt. Doch Personal dafür ist nicht mehr zu finden. „Wir bekommen die Pflegekrise direkt zu spüren“, sagt Angela Kehm. In dieser Woche könne ihre Tochter die Schule nur an zwei von fünf Tagen besuchen, weil nicht genug Personal für fünf Tage da sei.
Urlaub zu machen, sei für die Familie nur mit enormem Aufwand möglich. Bis Leonie Kehm 18 Jahre alt wurde, konnte sie mehrere Tage im Jahr in einer speziellen Kurzzeitpflege verbringen. Das ermöglichte den Eltern einen Kurzurlaub. Mittlerweile ist ein Kinder- und Jugendhospiz die einzige Möglichkeit für die Familie, Urlaub zu machen, weil Leonie seit mehreren Jahren nachts beatmet werden muss. Ein Aufenthalt dort ist nur zu dritt möglich. „Als pflegender Angehöriger hat man nie frei und auch keinen Urlaubsanspruch“, schildert Angela Kehm ihre Lage. Sie betont aber mehrmals, dass die Unterstützung von Staat und Krankenhassen für behinderte Menschen in Deutschland nichtsdestotrotz außerordentlich gut sei.
Gleichwohl erschwerten viele Probleme, große wie kleine, den Alltag enorm. Oft seien das Dinge, die Außenstehenden nicht bewusst sein könnten. So gibt es vielerorts Behindertenparkplätze. Für den speziellen Caddy der Familie allerdings, in dem Leonie in ihrem Rollstuhl sitzen bleiben kann, sind sie zu kurz. Mit den Bordsteinen sei es ähnlich. Es sei außerordentlich schwierig, sich mit dem Rollstuhl fortzubewegen – ob auf dem Land oder in der Stadt, das mache keinen Unterschied. Als weiteres großes Problem sieht Rainer Kehm, dass viele Menschen nie Kontakt mit behinderten Menschen hätten. „Die meisten Leute sind dadurch unbeholfen oder unsicher, und dafür können sie natürlich nichts“, sagt er. Das sieht er auch als Ursache für den Streit in dem Gastronomiebetrieb.
Dass es mittlerweile möglich ist, dass behinderte Kinder eine Regelschule besuchen, begrüßt er. Als Leonie eingeschult wurde, habe es diese Option nicht gegeben, sonst hätten die Eltern dies in Betracht gezogen. „Dadurch lernen die Menschen auch frühzeitig den Umgang mit Behinderten und Leonie hätte auch Freunde in der Nähe gefunden.“Zwischen ihr und ihrer besten Schulfreundin liegen 50 Kilometer Entfernung.
In Leonies Alter wechseln behinderte Menschen häufig von der Schule in eine Werkstatt. Es sei gängig, dass die Menschen dann auch stationär betreut werden, zum Beispiel im betreuten Wohnen, sagen die Eltern. Doch die Aufenthalte im Hospiz und Phasen, in denen es Leonie Kehm gesundheitlich schlecht geht, halten Mutter und Vater davon ab. Leonies Behinderung bringe eine verkürzte Lebenserwartung mit sich, doch wie kurz sie ist, weiß niemand. Es sei schwierig, sich dazu zu entscheiden, Leonie wegzuschicken, wenn unklar sei, ob sie überhaupt noch genügend Zeit habe, sich daran zu gewöhnen.
Momente der Ruhe gibt es wenige. Leonie Kehm muss 24 Stunden am Tag betreut werden, das ganze Jahr, ihr Leben lang. Ihre Mutter hat ihren Beruf aufgegeben, um das überhaupt leisten zu können. Weil nicht einmal das Osteressen möglich ist wegen eines Problems, das es Rainer Kehms Ansicht nach nicht geben müsste, will er ein Signal senden. Er möchte niemanden an den Pranger stellen, sagt er – doch dieses Erlebnis habe er als einschneidend empfunden. Die Betreiber des Gasthofes sind der Redaktion bekannt. Sie wollten ihren Namen und den Ort des Geschehens nicht in der Zeitung lesen und deshalb auf Nachfrage auch keine Stellung zu dem Vorfall nehmen.
Löffel für Löffel füttert er die erwachsene Tochter
Tolle Unterstützung – und dennoch viele Probleme