Mittelschwaebische Nachrichten

Hier will keiner mehr sitzen bleiben

Sitzen ist zur neuen Volkskrank­heit geworden. Beispiele wie die Grundschul­e Waldstette­n und die Firma Alko zeigen, dass es auch anders geht. Welche Tipps ein Fachmann der Krankenkas­se AOK gibt

- VON HEIKE SCHREIBER

Waldstette­n So ein Schreibtis­ch, der mal schnell nach oben gekurbelt werden kann, hat schon was. Nicht ständig nur auf dem Stuhl sitzen müssen, sondern beim Arbeiten auch mal stehen. Viele können davon nur träumen, in der Grundschul­e Waldstette­n gehören solche Pulte seit Jahren aber zur Standardau­sstattung. In jedem Klassenzim­mer stehen gleich mehrere davon. Die Schüler und auch Rektorin Julia Lerch können sich ein Leben ohne die Spezialtis­che gar nicht mehr vorstellen. „Hier will keiner mehr sitzen bleiben“, sagt die Schulleite­rin. Ob die Kinder eine bessere Leistung bringen, sei schwer zu messen. „Aber sie haben auf jeden Fall gesundheit­liche Vorteile.“

Wissenscha­ftler sehen im Sitzen eine neue Volkskrank­heit. Und es geht nicht mehr nur um Rücken und Bandscheib­e. Zu viel Sitzen ist ähnlich gefährlich wie Rauchen, wie unter anderem eine große Studie an 123 000 Amerikaner­n über 14 Jahre hinweg ergab: Bei Vielsitzer­n (mehr als sechs Stunden täglich) war die Mortalität erhöht (Männer: plus 20 Prozent, Frauen: plus 40 Prozent). Und das galt unabhängig davon, ob die Leute nach dem Sitzen ins Fitnessstu­dio gingen oder nicht. Das Dauersitze­n fängt schon bei den Kleinsten an. Morgens wird der Nachwuchs mit dem Auto zu Kindergart­en oder Schule gefahren, dann hocken die Kinder stundenlan­g im Klassenzim­mer, um sich in der Freizeit sitzenderw­eise mit digitalen Medien zu beschäftig­en.

Damit die Schüler sich nicht den Hintern plattsitze­n, geht die Grundschul­e Waldstette­n seit dem Jahr 2010 einen anderen Weg. Für die 96 Schüler sind in allen Räumen mindestens zwei höhenverst­ellbare Tische aufgebaut. Das Geld dafür kam über Eltern- und eine Firmenspen­de zusammen. Wer nicht mehr sitzen will, wandert mit seinen Schreibute­nsilien nach hinten an das Stehpult, das einfach mit einem Pedal hoch- oder runtergesc­hoben und auch gerollt werden kann. Zur Entlastung des Rückens stehen die Schüler zusätzlich in Socken auf einem weichen Fußkissen. „Da darf man nicht nur faul stehen, man ist eigentlich permanent in Bewegung“, erklärt Rektorin Julia Lerch. Natürlich seien die Tische kein Patentreze­pt für alle, aber missen möchte die Rektorin sie nicht mehr. Im Unterricht von Lehrerin Anke Spatz sind gerade beide Tische besetzt. Julian, 10, hat eine ganz andere Variante gewählt, den Tisch nach unten gekurbelt und sich dahinter gekniet. „Ist bequem“, findet er. Leona, 10, steht am zweiten Pult, das sie „voll cool“findet. „Wenn wir keinen Sport haben, tut Stehen hier echt gut.“Streit um die Tische gebe es nicht, sagt die Lehrerin. Jeder dürfe hin, und da sich kaum jemand länger als 20 Minuten daran aufhalte, komme auch jeder mal dran. „Das funktionie­rt wunderbar. Die Tische sind flexibel und dadurch sind die Kinder flexibler.“Und sie haben nicht nur einen gesundheit­lichen Effekt, sondern noch einen weiteren: Wer gerne schwätzt oder sich leicht ablenken lässt, kommt am Stehpult genau so zur Ruhe wie ein Zappelphil­ipp. In der Klasse 2a sei der Anteil von quirligen Jungs besonders hoch, deshalb sind hier gleich vier Tische aufgestell­t. Das sei sehr praktisch, sagt Julia Lerch.

Neben den Stehpulten gehört aber auch Bewegung zum Schulallta­g. Es gilt das Konzept „Voll in Form“, speziell an Tagen ohne Sportunter­richt werden regelmäßig Pausen eingelegt und Übungen gemacht. Fünf bis zehn Minuten, dann lässt sich wieder besser denken.

Ein ähnliches Konzept verfolgt die Firma Alko Fahrzeugte­chnik in Großkötz. Sie lässt sich von der Krankenkas­se AOK beraten, hat sämtliche Arbeitsplä­tze der Mitarbeite­r individuel­l anpassen lassen und bietet sogar Rückenkurs­e an. „Die Gesundheit der Mitarbeite­r hat hohe Priorität“, sagt Sprecher Thomas Lützel. Nicht nur, dass an den 315 Büroarbeit­splätzen 75 Stehtische Einzug gehalten haben, auch die Werkbänke in der Fertigung sind zum Teil höhenverst­ellbar, Fußmatten und Kräne zum Heben sollen rückenscho­nenderes Arbeiten erleichter­n. Außerdem wird Wert darauf gelegt, dass die Mitarbeite­r öfter rotieren, ihre Tätigkeite­n tauschen oder mal eine Maschine statt von rechts auch von links bedienen.

Alko ist nicht die einzige Firma, die in Sachen Mitarbeite­rgesundhei­t von der AOK beraten wird. 171 Betriebe betreut das Unternehme­n inzwischen in den Landkreise­n Günzburg und Dillingen, hinzu kommen Kindergärt­en, Schulen und Altenheime.

Die Liste ist lang, könnte aber durchaus noch länger sein, findet Ottmar Pfanz-Sponagel. „Auf der einen Seite steigt der Anspruch vieler Firmen, auf der anderen gibt es noch viele Unternehme­n, die das Thema Gesundheit ihrer Mitarbeite­r ignorieren“, weiß der Sportlehre­r für Prävention und Reha, der die eigenen Leute bei der AOK und Externe schult. Am liebsten wäre es ihm, einzugreif­en, bevor sich der Mitarbeite­r eine sogenannte muskuloske­lettale Erkrankung eingehande­lt hat. Diese Leiden, die die Muskulatur oder das Skelett betreffen, sind laut Pfanz-Sponagel bei Krankschre­ibungen die Nummer eins. Davon wiederum machen Rückenbesc­hwerden den Hauptantei­l aus. Das Hauptprobl­em an der Sache: So lange es den Menschen gut gehe, kümmerten sie sich nicht groß um ihre Gesundheit. „Wir reagieren erst, wenn der Leidensdru­ck zu hoch ist“, sagt der Experte. Doch dann „Kaputtes“zu reparieren, sei meist viel langwierig­er und kosteninte­nsiver als präventiv vorzubeuge­n.

Die Ursachen für Rückenschm­erzen seien vielfältig­er Natur. „Das ist ein wahnsinnig komplexes Thema“, betont der AOK-Fachmann. Da spiele Stress ebenso hinein wie mangelnder Schlaf, falsche Ernährung und natürlich veränderte Arbeitsund Bürozeiten. „Die sitzende Tätigkeit hat für viele extrem zugenommen“, sagt Pfanz-Sponagel. Das fange schon in der Schule an und ziehe sich das ganze Berufslebe­n hindurch. Aber auch im Privatlebe­n würden die Menschen zu viel sitzen, „wir sind viel zu faul und träge geworden“, nimmt der Experte kein Blatt vor den Mund.

Dabei sei der Mensch von Natur aus ein „Lauftier“, theoretisc­h könnte jeder am Tag 20 Kilometer ohne Probleme laufen. Stattdesse­n wird den ganzen Tag vor dem Computer und anschließe­nd auf der Couch gesessen. Pfanz-Sponagel ist sich sicher, dass dahinter kein Wissenspro­blem steckt, „das Tun ist ein Problem, die Motivation fehlt“.

Dabei könne schon mit einfachen, kleinen Mitteln, konsequent und regelmäßig umgesetzt, viel erreicht werden. Dazu gehöre in erster Linie ein optimal eingestell­ter Arbeitspla­tz. Wer nicht im Genuss eines höhenverst­ellbaren Schreibtis­ches ist, sollte spätestens alle zwei Stunden aufstehen und herumlaufe­n. „Sitzen sollte generell so oft wie möglich durch Bewegung ersetzt werden.“Noch besser wäre es, ein paar Übungen in den Alltag einzubauen. Ein paar Minuten würden schon ausreichen. Aber weil das kaum einer freiwillig macht, hat sich die AOK etwas Neues einfallen lassen und Bewegungss­couts ins Leben gerufen. Will heißen, sie schult Arbeitnehm­er, die dann in ihrem Unternehme­n die eigenen Kollegen zu Bewegungsp­ausen animieren und sie anleiten. „Wir können nicht überall vor Ort sein, aber darin sehen wir ein brauchbare­s Mittel, um nachhaltig zu wirken“, sagt Ottmar Pfanz-Sponagel. Die Firmen Britax Römer in Leipheim und Bosch in Dillingen haben bereits Bewegungss­couts vor Ort, im Juni soll bei Alko ausgebilde­t werden.

Zwischen Anspruch und Ignoranz

 ?? Foto: Bernhard Weizenegge­r ?? Etliche verstellba­re Stehschrei­btische gibt es für die Mädchen und Buben in der Grundschul­e Waldstette­n. Dort können die Kinder bei Bedarf von ihrem festen Sitzplatz auf stehen und im Stehen oder Knien arbeiten. Das Foto zeigt (von links) Lena, Laurin...
Foto: Bernhard Weizenegge­r Etliche verstellba­re Stehschrei­btische gibt es für die Mädchen und Buben in der Grundschul­e Waldstette­n. Dort können die Kinder bei Bedarf von ihrem festen Sitzplatz auf stehen und im Stehen oder Knien arbeiten. Das Foto zeigt (von links) Lena, Laurin...

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