Mittelschwaebische Nachrichten
Kein Schutz, nirgends
„Der Gott jenes Sommers“: Ralf Rothmann erzählt aus Sicht eines Mädchens von den letzten Kriegsmonaten
Sinnloses, verlustreiches Durchhalten an verlorenen Fronten, surrealer Fanatismus im Hinterland, Ausgebombte und Flüchtlingsströme, die auf das Ende warten, das aber nicht so bald kommt: Die letzten Kriegsmonate und ihre zufällig zusammengewürfelten Schicksalsgemeinschaften sind in diesem Frühjahr Thema in ausgezeichneten Romanen. Arno Geiger beschreibt in seinem Buch „Unter der Drachenwand“ein Dorf am Mondsee, das Zufluchtsort und Kampfplatz im Dahinsiechen des Krieges ist. Und Ralf Rothmann, geboren 1953, erzählt in seinem neuen Roman „Der Gott jenes Sommers“von den letzten Kriegsmonaten auf einem Gut in Norddeutschland, unweit des zerbombten Kiel. Schon in seinem Vorgängerroman „Im Frühling sterben“hatte sich Rothmann mit dem Untergang der Zivilisation in der Endphase des Weltkrieges befasst.
Hauptfigur in „Der Gott jenes Sommers“ist die zwölfjährige Luisa, die unter der Verrohung der Sitten ihre Kindheit verliert. Luisas Familie ist ausgebombt und aus Kiel auf den Gutshof auf dem Land evakuiert. Dort verliebt sich Luisa in den Melker Walter, der Rothmann-Lesern als Hauptfigur aus „Im Frühling sterben“im Gedächtnis geblieben ist. Im Gegensatz zu dieser zarten Verliebtheit steht Luisas lebenslustige 20-jährige Schwester, die sich mit vielen Männern einlässt, die sie mit Geschenken bei Laune halten. Die Mutter denkt bloß ans Überleben, der Vater ist ein vernünftiger Mann und liebevoller Vater, der trinkt und kein Parteigänger ist. Ganz im Gegensatz zu Luisas Stiefschwester Gudrun und deren Mann Vinzent. Sie eine völkische Nazifrau, er ein SS-Offizier. Er wird auf einer Geburtstagsfeier Luisa bedrängen – ausgerechnet im Schutzbunker seiner Villa. Doch in diesen letzten Kriegsmonaten bietet nichts mehr Schutz. Es ist ein Krieg der Mitläufer, Säufer, der Angepassten und Brutalisierten, der Entrechteten und Verlorenen. Menschen und Tiere, alle Kreaturen, darben, leiden und verrecken. Unter all diesen Erwachsenen, die einen Totentanz ohne Rücksicht aufführen, unter den Bomben der alliierten Flugzeuge, erlebt Luisa das nahende Kriegsende als Apokalypse, als sinnloses Weitermachen, als Trauma. Rothmann entwirft verstörende Szenen: apathische russische Kriegsgefangene in einer Scheune, denen das letzte Blut abgezapft wird, die wahrhaftig zu Tode gemolken werden. Und diese roten Haare, die Luisa wiedererkennt und aus denen eine Perücke gemacht wird …
Das Mädchen ist zart, naiv, liebt Bücher und Tiere. Doch die Bücher helfen ihr nicht, die Tiere werden geschlachtet, ihr Vater hängt sich auf. Am Ende sagt Luisa, sie wolle Nonne werden, sie habe schon „alles erlebt, alles gesehen“.
Rothmann erzählt sehr realistisch von der psychologischen Spannung in der Familie, von Duckmäusertum und Abstumpfung. Er verknüpft diesen Krieg mit dem Dreißigjährigen Krieg, wovon er in kurzen Zwischenkapiteln erzählt. Es geht um zwei Männer, die eine Kapelle über einen See ins Dorf ziehen wollen, um Gott milde zu stimmen. Auf Seite 176 dann, ein Kunstgriff, bringt der Autor beides zusammen, in einer großartigen Überblendung, als Luisa in Vinzents Villa eine alte Darstellung der Schrecken des Dreißigjährigen Krieges sieht.