Mittelschwaebische Nachrichten
Euphorie in Russland
Zwei Spiele, zwei Siege, 8:1 Tore: Noch nie ist ein WM-Gastgeber besser in ein Turnier gestartet. Endlich scheint sogar ein Nachfolger für die Legende Lew Jaschin gefunden
Sotschi/Moskau Russland entdeckt das Flair der Weltmeisterschaft. „Rooo-ziiiii-jaaaa“schallt es durch die Straßen des Landes, der sonst eher zurückhaltende Russe springt auf und umarmt seinen Nachbarn. Zweiter Sieg, Erfolge über SaudiArabien und Ägypten bewegen plötzlich die Gemüter landesweit. Noch nie ist ein WM-Gastgeber besser in ein Heimturnier gestartet. Staatschef Wladimir Putin sieht zufrieden aus, wenn er in seiner panzerglasgesicherten VIP-Box sitzt. Das war sein Plan.
In der Arbat, einer dieser Touristenstraßen in Moskau, ist immer irgendwie Weihnachten, ein Glitzerlichtteppich liegt Tag für Tag über der Passage, die mit Souvenirshops, Starbucks und russischen Kneipen gepflastert ist. Bislang strömten vor allem die Gäste-Fans dorthin, nun mischen sich die russischen Anhänger nicht mehr ganz vorsichtig mit auf die Straße. Letztgenannte wissen um die strengen Versammlungsregeln in Russland, aber die omnipräsenten Sicherheitskräfte schreiten nicht ein, sie schauen weiter grimmig, aber nun haben einige auch die Farben der russischen Fahne aufs Gesicht gemalt. Oder vom Senegal. Wobei: Männer in Camouflage sind weiterhin stets mit größter Vorsicht zu genießen.
Dennoch: Alles wird lockerer, die Fan-Feste in den elf Austragungsorten sind nicht selten am Rande ihrer Kapazität angelangt. Auf den Sperlingsbergen in Moskau nahe der Universität kommt an manchen Tagen keiner mehr rein. Dabei haben die Studenten Prüfungszeit. Erste Autos mit auf der Kühlerhaube angebrachter rot-weiß-blauer Flagge sind zu sehen in Sotschi. Kasan feiert die ganze Nacht. Keiner fragt mehr nach den Kosten, nach fehlender Demokratie, Menschenrechtsverletzungen. Das war doch sowieso nur ein Thema der Ausländer, sagt Kirill, der Concierge im Hotel Salut. Man interessiert sich für die Sbornaja, der zweite Sieg gegen Ägypten beseitigte Zweifel an der Eintagsfliege. „Wir reißen die Rivalen in Stücke“, titelte die Zeitung SportExpress martialisch, während die
Sport voller Pathos schrieb: „Ganz egal, was jetzt noch kommt, wir werden uns immer mit glückseligen Gefühlen an diese Tage erinnern.“Vergessen ist die schwache Vorbereitung des Teams von Trainer Stanislaw Tschertschessow, die Pleiten gegen Österreich und die Türkei. Ein neuer Liebling ist auch schon gefunden: Denis Tscheryschew. Lew Jaschin war gestern, wo findet man ein Tscheryschew-Tri- kot mit der Nummer 6? Drei Tore in zwei Partien, Russland liebt ihn wie 2006 Deutschland Arne Friedrich, dabei ist der 27-Jährige bereits mit sechs Jahren nach Spanien ausgewandert, weil sein Vater dort als Profi in Gijon sein Geld verdiente – und ist da immer geblieben. „Wir wissen alle nicht so recht, warum es plötzlich so gut läuft. Wir können es uns nicht erklären“, sagte der 27-Jährige. Er wisse nur, „dass wir das Land weiter frohlocken lassen wollen“.
„Rossija, Rossija, Rossija“. Zwei Fußballsiege bewegen ein riesiges Land auf durchaus positive und charmante Art und Weise. Erste Autokorsi bilden sich, verhalten, aber tatsächlich mit Fahnen und Fanfaren. Wobei Hupen in den Städten Russlands beim Autofahren sowieso zum guten Ton gehört.
Die ausländischen Gäste haben es vorgemacht. Moskau war anfangs fest in der Hand der Mexikaner und Argentinier. Und allen anderen, die im Luschniki-Stadion oder der Spartak-Arena mit ihren Nationalteams antreten durften. Jetzt haben sich die Russen unter das FußballVolk gemischt und das MultikultiSpektakel für sich entdeckt, sie feierten bis zum Morgengrauen – wobei die Sonne in Moskau schon um 3 Uhr aufgeht. Fast schon unglaublich, es ist schon jetzt ein kleines russisches Sommermärchen.