Mittelschwaebische Nachrichten
Dokumentarist der Traumata
Der Filmemacher und Philosoph ist tot. Sein berühmtestes Werk: Shoah
Paris Antisemitismus, Unmenschlichkeit und Gewalt: Claude Lanzmann hat sich in seinen Filmen mit Themen auseinandergesetzt, die weiter schmerzen. Durch sein neuneinhalbstündiges Zeitzeugnis „Shoah“über den Völkermord an europäischen Juden schrieb sich der französische Filmemacher, Philosoph und Schriftsteller in das Gedächtnis der Menschheit ein. Gestern ist der Sohn jüdischer Eltern 92-jährig in Paris gestorben.
Das Vergegenwärtigen der Vergangenheit, so nannte Lanzmann seine Arbeit. Dabei holte er Ereignisse in die Gegenwart zurück, die mit dem dunkelsten Kapitel der Weltgeschichte zu tun haben: dem Holocaust. Mit „Shoah“hat Lanzmann einen der radikalsten Filme über die Vernichtung europäischer Juden im Nationalsozialismus gedreht. In der Dokumentation aus dem Jahr 1985 lässt er Opfer und Täter des Holocaust zu Wort kommen. Der Film, an dessen Realisierung er mehr als zehn Jahre arbeitete, machte Lanzmann weltberühmt und das Trauma der Überlebenden der Vernichtungslager sichtbar.
Seinen ersten Film „Warum Israel“hatte Lanzmann 1972 gedreht. Darin zeigt er die Notwendigkeit eines jüdischen Staates. Dem Debütwerk folgten „Shoah“und „Tsahal“, der 1994 wegen seiner rückhaltlosen Begeisterung für das israelische Militär auf Kritik stieß. Im Jahr 2001 erschien „Sobibor“, in dem Lanzmann den Aufstand in dem gleichnamigen deutschen Vernichtungslager verarbeitete.
Zu Lanzmanns weiteren filmischen Wagnissen zählt „Der letzte der Ungerechten“. Mit dieser 2013 auf dem Filmfestival in Cannes präsentierten Dokumentation wollte er Benjamin Murmelstein rehabilitieren, den letzten Vorsitzenden des Judenrates im KZ Theresienstadt. Nach dem Krieg kam Murmelstein wegen Kollaboration mit den Nationalsozialisten in Haft, wurde aber nach 18 Monaten freigesprochen.
In „Napalm“schließlich rückte Lanzmann 2017 in Cannes den Koreakrieg (1950 – 1953) in den Fokus, bei dem US-amerikanische Flieger große Mengen Napalm abwarfen. In dem Film, für den er 2004 und 2015 noch einmal in das diktatorisch geführte Nordkorea reiste, erinnert er sich an die Krankenschwester Kim Kum-sun, in die er sich schon 1958 bei einem Aufenthalt unsterblich verliebt hatte.
Lanzmann gehörte damit zu den ersten Menschen aus dem Westen, die nach dem Koreakrieg in den Nordteil des Landes reisen durften. Seine Liebesgeschichte mit der Krankenschwester beschrieb er schon 2010 in seiner Autobiografie „Der patagonische Hase. Erinnerungen“. Mit dem Memoirenband, der auch auf Deutsch erschien, feierte Lanzmann 84-jährig sein erfolgreiches Debüt als Schriftsteller. Fünf Jahre später gab er mit „Das Grab des göttlichen Tauchers“einen weiteren Rückblick auf sein bewegtes Leben.
Lanzmann wurde am 27. November 1925 im Großraum Paris geboren. Als Jugendlicher engagierte er sich in der kommunistischen Jugendbewegung Frankreichs, der französischen Widerstandsbewegung. Er studierte Philosophie und war später Lektor an der Freien Universität Berlin. Als Journalist reiste er unter anderem auch nach China.
Lanzmann war einst mit dem Philosophen Jean-Paul Sartre befreundet und führte mit dessen Partnerin, der Schriftstellerin und Feministin Simone de Beauvoir, eine sechsjährige eheähnliche Beziehung (1952 – 1958). Verheiratet war Lanzmann in erster Ehe mit der französischen Schauspielerin Judith Magre; in den 70er-Jahren heiratete er die deutsche Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff.