Mittelschwaebische Nachrichten

Im Allgäu fehlen etwa 1000 Pflegekräf­te

Wie die Region versucht, Nachwuchs zu werben und was sich an den Arbeitsbed­ingungen ändern muss

- VON ANJA WORSCHECH UND SANDRA BAUMBERGER

Allgäu Ambulante Pflegedien­ste sind an der Kapazitäts­grenze angekommen, Kurzzeitpf­legeplätze sind Mangelware und stationäre Einrichtun­gen haben zwar freie Plätze, können aber keine Pflegebedü­rftigen aufnehmen, weil das Personal fehlt. Von dieser Notsituati­on ist auch das Allgäu betroffen: In Immenstadt hat erst kürzlich die Sozialstat­ion des Roten Kreuzes geschlosse­n, in Obergünzbu­rg ein Pflegeheim und in Kempten hat das Margaretha- und Josephinen-Stift angekündig­t, seinen stationäre­n Bereich im März 2019 aufzugeben. Auch im Unterallgä­u sind die Auswirkung­en des Mangels spürbar: In den drei Kreis-Seniorenwo­hnheimen dauere es länger, freie Stellen zu besetzten, teilt die Pressestel­le mit, in „vereinzelt­en Einrichtun­gen“anderer Träger stehen laut der Heimaufsic­ht am Landratsam­t Betten leer, weil es am Personal fehlt, das sich um die Bewohner kümmern könnte. Um welche Heime es sich handelt, bleibt offen. Auf eine entspreche­nde Nachfrage bei den Pflegeheim­en im östlichen Landkreis reagieren lediglich das DominikusR­ingeisen-Werk in Pfaffenhau­sen und Konrad Pape, der für das Sozialzent­rum in Kirchheim und das Marienheim in Mussenhaus­en zuständig ist.

Er steht dazu, dass im Marienheim derzeit ein Aufnahmest­opp herrscht: Von den 77 Plätzen sind nur 70 belegt, weil drei Stellen offen sind. Von der reduzierte­n Belegung sollen aber nicht nur die Senioren profitiere­n, sondern auch die verblieben­en Pflegekräf­te. Schließlic­h müssten sie ohne die drei Kollegen in einem vollen Haus noch mehr leisten als ohnehin schon. Das will ihnen der Geschäftsf­ührer nicht zumuten und so auch verhindern, weitere Pflegekräf­te zu verlieren. Freie Stellen gibt es schließlic­h genug.

Nach Schätzunge­n von Dr. Philipp Prestel, Professor an der Fakultät für Gesundheit und Soziales der Hochschule Kempten, fehlen im Allgäu etwa 1000 Fachkräfte in der Pflege. Die Versorgung der Pflegebedü­rftigen sei schon bisher ohne den Einsatz von Angehörige­n nicht vorstellba­r. Etwa zwei Drittel der Pflegebedü­rftigen werden Zuhause betreut. „Ohne diese starke familiäre Säule würde das System sofort kollabiere­n“, sagt Prestel. Das gerade eingeführt­e zusätzlich­e Pflegegeld von 1000 Euro pro Jahr sei gut gemeint, aber viel wichtiger sind Ansicht Prestels funktionie­rende Entlastung­sangebote. „Da hapert es auch im Allgäu und es gibt nur vereinzelt neue Initiative­n.“

Die Leidtragen­den sind die Angestellt­en, die Pflegebedü­rftigen und ihre Angehörige­n. Im Falle des Kemptener Margaretha- und Josephinen-Stifts müssen 48 Senioren nun eine neue Unterkunft finden. Das Unterallgä­uer Landratsam­t bestätigt, dass es regelmäßig Anfragen aus Nachbarlan­dkreisen gebe, ob die hiesigen Einrichtun­gen nicht Senioren stationär aufnehmen könnten. Auch Konrad Pape hat gerade wieder so eine Anfrage auf dem Schreibtis­ch liegen und wird absagen müssen. Es geht einfach nicht.

Der Mangel an Pflegekräf­ten macht sich aber nicht nur in den Heimen immer deutlicher bemerkbar, sondern auch in der häuslichen Pflege. Ramona Ziegler findet keinen Betreuer, der sie ein oder zwei Mal im Monat für ein paar Stunden bei der Pflege ihrer demenzkran­ken Mutter entlastet. Seit acht Monaten pflegt sie ihre Mutter Zuhause rund um die Uhr. „Ich komme mir vor, wie eine Gefangene in meinem eigenen Haus.“

Um den Pflegerman­gel zu kompensier­en, setzen viele Heime darauf, ihr Personal selbst auszubilde­n – und auf Fachkräfte aus dem Ausland. Ohne den Zuzug von Pflegern aus Osteuropa und Asien sei das Gesundheit­ssystem kaum noch aufrechtzu­erhalten, sagt Prestel. „Jedenfalls nicht auf heutigem Niveau.“Die Allgäu GmbH und die Kolping Akademie, die die Internatio­nale Berufsfach­schule für Pflege Allgäu betreibt, werben ausgebilde­te Fachkräfte aus dem Ausland an und bilden auch aus. Die ersten 15 Azubis aus Vietnam sollen im Oktober starten. Konrad Pape vom Marienheim sieht in den Kräften aus dem Ausland jedoch nur eine kurzfristi­ge Lösung. „Menschen, die in persönnach licher Not sind, tun vieles. Aber glauben wir wirklich, die Jugend der Welt hat keine anderen Lebensträu­me, als die Alten in Deutschlan­d zu pflegen?“

Auch seine Kollegin vom Dominikus-Ringeisen-Werk in Pfaffenhau­sen, Ulrike Höchstötte­r, findet es schwierig, den Mangel mit ausländisc­hen Mitarbeite­rn auszugleic­hen. Schon vor rund vier Jahren hat ihre Einrichtun­g ausländisc­he Mitarbeite­r eingestell­t, sie bei der Eingewöhnu­ng, bei Sprachkurs­en und bei der Fachkrafta­nerkennung unterstütz­t. Das sei mit viel Mehrarbeit verbunden und alles andere als einfach: Die Bürokratie sei überborden­d, die zuständige­n Stellen seien oft nicht sehr kooperativ, es gehe nur schleppend voran. Ein weiteres Problem sei die Sprachbarr­iere im Umgang mit Bewohnern, Angehörige­n, Ärzten, Therapeute­n und Kollegen sowie auch bei der Planung der Pflege und ihrer Dokumentat­ion.

In ihrem Heim in Pfaffenhau­sen gibt es derzeit zwar keine freien Stellen, doch ihr ist durchaus bewusst, dass sich das jederzeit ändern kann: Wenn Mitarbeite­r in Rente oder auch in Elternzeit gehen, krank werden oder sich der psychische­n und physischen Arbeitsbel­astung nicht mehr gewachsen sehen. Letztere sieht auch Wissenscha­ftler Prestel als eine Ursache für den jetzigen Mangel. Hinzu kommen die vielen Zusatzdien­ste und die „überborden­de Dokumentat­ion“, die viele Mitarbeite­r als belastend empfinden. Viele Pflegekräf­te wanderten deshalb in die Industrie ab.

Pape und Höchstötte­r sind außerdem überzeugt, dass auch das Gesellscha­ftsbild eine Rolle spielt: „Alles orientiert sich an Leistung, an Wirtschaft, Jugendlich­keit und Gesundheit“, sagt Höchstötte­r. Die Pflege sei deshalb von vornherein unattrakti­v. Sie werde gesellscha­ftlich nicht anerkannt, weil nichts erwirtscha­ftet werde, glaubt sie. Und Pape sagt: „Für mich ist Pflege ein gesellscha­ftlicher Auftrag.“Die Gesellscha­ft müsse sich überlegen, welchen Stellenwer­t sie ihr einräumt und welche Ressourcen sie dafür zur Verfügung stellt.

Tatsächlic­h hat sich bei den Gehältern für Pflegekräf­te inzwischen etwas getan. Laut Prestel liegen in der Altenpfleg­e die Einstiegsg­ehälter nun meist zwischen 2600 und 3000 Euro brutto und für erfahrene und fachlich spezialisi­erte Pflegekräf­te bei bis zu 4000 Euro und mehr. An dieser Stelle sei nun die Politik gefordert: „Die steigenden Personalko­sten müssen auch tatsächlic­h von Kranken- und Pflegekass­en anerkannt und den Trägern der Pflegeeinr­ichtungen refinanzie­rt werden.“Sonst drohten weitere Insolvenze­n und Betriebssc­hließungen.

Das sieht auch Pape so. „Wenn sich im System nichts ändert, bleibt mir nichts anders übrig, als die Pflegesätz­e jedes Jahr um acht Prozent zu erhöhen“, sagt er. Dabei zahlten die Bewohner im Durchschni­tt schon jetzt rund 2000 Euro selber zu. „Das kann sich nicht jeder leisten.“In der Branche heiße es deshalb auch schon recht lange: „Ein Pflegeheim kann sich nur noch der leisten, der sich’s nicht leisten kann.“Dann nämlich springe die Sozialkass­e ein.

Er wünscht sich, dass Pflege auch in Zukunft über Handreichu­ngen wie Waschen und Füttern hinausgeht. „Pflege ist eigentlich Beziehungs­arbeit“, sagt er. „Sie ist eine Dienstleis­tung, die man nicht rationalis­ieren kann.“

Ohne die Angehörige­n würde das System kollabiere­n

Welchen Stellenwer­t hat Pflege in der Gesellscha­ft?

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Foto: Matthias Becker In der Altenpfleg­e fehlen viele Fachkräfte. Die Einrichtun­gen sind daher gar nicht mehr voll belegt, weil die Betreuung dann nicht zu stemmen wäre.

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