Mittelschwaebische Nachrichten
Im Allgäu fehlen etwa 1000 Pflegekräfte
Wie die Region versucht, Nachwuchs zu werben und was sich an den Arbeitsbedingungen ändern muss
Allgäu Ambulante Pflegedienste sind an der Kapazitätsgrenze angekommen, Kurzzeitpflegeplätze sind Mangelware und stationäre Einrichtungen haben zwar freie Plätze, können aber keine Pflegebedürftigen aufnehmen, weil das Personal fehlt. Von dieser Notsituation ist auch das Allgäu betroffen: In Immenstadt hat erst kürzlich die Sozialstation des Roten Kreuzes geschlossen, in Obergünzburg ein Pflegeheim und in Kempten hat das Margaretha- und Josephinen-Stift angekündigt, seinen stationären Bereich im März 2019 aufzugeben. Auch im Unterallgäu sind die Auswirkungen des Mangels spürbar: In den drei Kreis-Seniorenwohnheimen dauere es länger, freie Stellen zu besetzten, teilt die Pressestelle mit, in „vereinzelten Einrichtungen“anderer Träger stehen laut der Heimaufsicht am Landratsamt Betten leer, weil es am Personal fehlt, das sich um die Bewohner kümmern könnte. Um welche Heime es sich handelt, bleibt offen. Auf eine entsprechende Nachfrage bei den Pflegeheimen im östlichen Landkreis reagieren lediglich das DominikusRingeisen-Werk in Pfaffenhausen und Konrad Pape, der für das Sozialzentrum in Kirchheim und das Marienheim in Mussenhausen zuständig ist.
Er steht dazu, dass im Marienheim derzeit ein Aufnahmestopp herrscht: Von den 77 Plätzen sind nur 70 belegt, weil drei Stellen offen sind. Von der reduzierten Belegung sollen aber nicht nur die Senioren profitieren, sondern auch die verbliebenen Pflegekräfte. Schließlich müssten sie ohne die drei Kollegen in einem vollen Haus noch mehr leisten als ohnehin schon. Das will ihnen der Geschäftsführer nicht zumuten und so auch verhindern, weitere Pflegekräfte zu verlieren. Freie Stellen gibt es schließlich genug.
Nach Schätzungen von Dr. Philipp Prestel, Professor an der Fakultät für Gesundheit und Soziales der Hochschule Kempten, fehlen im Allgäu etwa 1000 Fachkräfte in der Pflege. Die Versorgung der Pflegebedürftigen sei schon bisher ohne den Einsatz von Angehörigen nicht vorstellbar. Etwa zwei Drittel der Pflegebedürftigen werden Zuhause betreut. „Ohne diese starke familiäre Säule würde das System sofort kollabieren“, sagt Prestel. Das gerade eingeführte zusätzliche Pflegegeld von 1000 Euro pro Jahr sei gut gemeint, aber viel wichtiger sind Ansicht Prestels funktionierende Entlastungsangebote. „Da hapert es auch im Allgäu und es gibt nur vereinzelt neue Initiativen.“
Die Leidtragenden sind die Angestellten, die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen. Im Falle des Kemptener Margaretha- und Josephinen-Stifts müssen 48 Senioren nun eine neue Unterkunft finden. Das Unterallgäuer Landratsamt bestätigt, dass es regelmäßig Anfragen aus Nachbarlandkreisen gebe, ob die hiesigen Einrichtungen nicht Senioren stationär aufnehmen könnten. Auch Konrad Pape hat gerade wieder so eine Anfrage auf dem Schreibtisch liegen und wird absagen müssen. Es geht einfach nicht.
Der Mangel an Pflegekräften macht sich aber nicht nur in den Heimen immer deutlicher bemerkbar, sondern auch in der häuslichen Pflege. Ramona Ziegler findet keinen Betreuer, der sie ein oder zwei Mal im Monat für ein paar Stunden bei der Pflege ihrer demenzkranken Mutter entlastet. Seit acht Monaten pflegt sie ihre Mutter Zuhause rund um die Uhr. „Ich komme mir vor, wie eine Gefangene in meinem eigenen Haus.“
Um den Pflegermangel zu kompensieren, setzen viele Heime darauf, ihr Personal selbst auszubilden – und auf Fachkräfte aus dem Ausland. Ohne den Zuzug von Pflegern aus Osteuropa und Asien sei das Gesundheitssystem kaum noch aufrechtzuerhalten, sagt Prestel. „Jedenfalls nicht auf heutigem Niveau.“Die Allgäu GmbH und die Kolping Akademie, die die Internationale Berufsfachschule für Pflege Allgäu betreibt, werben ausgebildete Fachkräfte aus dem Ausland an und bilden auch aus. Die ersten 15 Azubis aus Vietnam sollen im Oktober starten. Konrad Pape vom Marienheim sieht in den Kräften aus dem Ausland jedoch nur eine kurzfristige Lösung. „Menschen, die in persönnach licher Not sind, tun vieles. Aber glauben wir wirklich, die Jugend der Welt hat keine anderen Lebensträume, als die Alten in Deutschland zu pflegen?“
Auch seine Kollegin vom Dominikus-Ringeisen-Werk in Pfaffenhausen, Ulrike Höchstötter, findet es schwierig, den Mangel mit ausländischen Mitarbeitern auszugleichen. Schon vor rund vier Jahren hat ihre Einrichtung ausländische Mitarbeiter eingestellt, sie bei der Eingewöhnung, bei Sprachkursen und bei der Fachkraftanerkennung unterstützt. Das sei mit viel Mehrarbeit verbunden und alles andere als einfach: Die Bürokratie sei überbordend, die zuständigen Stellen seien oft nicht sehr kooperativ, es gehe nur schleppend voran. Ein weiteres Problem sei die Sprachbarriere im Umgang mit Bewohnern, Angehörigen, Ärzten, Therapeuten und Kollegen sowie auch bei der Planung der Pflege und ihrer Dokumentation.
In ihrem Heim in Pfaffenhausen gibt es derzeit zwar keine freien Stellen, doch ihr ist durchaus bewusst, dass sich das jederzeit ändern kann: Wenn Mitarbeiter in Rente oder auch in Elternzeit gehen, krank werden oder sich der psychischen und physischen Arbeitsbelastung nicht mehr gewachsen sehen. Letztere sieht auch Wissenschaftler Prestel als eine Ursache für den jetzigen Mangel. Hinzu kommen die vielen Zusatzdienste und die „überbordende Dokumentation“, die viele Mitarbeiter als belastend empfinden. Viele Pflegekräfte wanderten deshalb in die Industrie ab.
Pape und Höchstötter sind außerdem überzeugt, dass auch das Gesellschaftsbild eine Rolle spielt: „Alles orientiert sich an Leistung, an Wirtschaft, Jugendlichkeit und Gesundheit“, sagt Höchstötter. Die Pflege sei deshalb von vornherein unattraktiv. Sie werde gesellschaftlich nicht anerkannt, weil nichts erwirtschaftet werde, glaubt sie. Und Pape sagt: „Für mich ist Pflege ein gesellschaftlicher Auftrag.“Die Gesellschaft müsse sich überlegen, welchen Stellenwert sie ihr einräumt und welche Ressourcen sie dafür zur Verfügung stellt.
Tatsächlich hat sich bei den Gehältern für Pflegekräfte inzwischen etwas getan. Laut Prestel liegen in der Altenpflege die Einstiegsgehälter nun meist zwischen 2600 und 3000 Euro brutto und für erfahrene und fachlich spezialisierte Pflegekräfte bei bis zu 4000 Euro und mehr. An dieser Stelle sei nun die Politik gefordert: „Die steigenden Personalkosten müssen auch tatsächlich von Kranken- und Pflegekassen anerkannt und den Trägern der Pflegeeinrichtungen refinanziert werden.“Sonst drohten weitere Insolvenzen und Betriebsschließungen.
Das sieht auch Pape so. „Wenn sich im System nichts ändert, bleibt mir nichts anders übrig, als die Pflegesätze jedes Jahr um acht Prozent zu erhöhen“, sagt er. Dabei zahlten die Bewohner im Durchschnitt schon jetzt rund 2000 Euro selber zu. „Das kann sich nicht jeder leisten.“In der Branche heiße es deshalb auch schon recht lange: „Ein Pflegeheim kann sich nur noch der leisten, der sich’s nicht leisten kann.“Dann nämlich springe die Sozialkasse ein.
Er wünscht sich, dass Pflege auch in Zukunft über Handreichungen wie Waschen und Füttern hinausgeht. „Pflege ist eigentlich Beziehungsarbeit“, sagt er. „Sie ist eine Dienstleistung, die man nicht rationalisieren kann.“
Ohne die Angehörigen würde das System kollabieren
Welchen Stellenwert hat Pflege in der Gesellschaft?