Mittelschwaebische Nachrichten
Lehmbruck und das Leid
Ausstellung Die Staatsgalerie Stuttgart zeigt den genialen Bildhauer und Grafiker
Stuttgart Es war im Winter 1918 in Zürich, als Wilhelm Lehmbruck zu einem Hammer griff und eine seiner Büsten zerschlug. Wenige Wochen später ist der Künstler, der zu den bedeutendsten Bildhauern des 20. Jahrhunderts zählt, tot. Gestorben durch die eigene Hand in Berlin.
Das Kunstwerk, das er zerstörte, trug den Arbeitstitel „Kopf eines Denkers“und galt als Selbstporträt. Doch auch wenn die zerborstene Büste auf den Akt der Selbstzerstörung verweisen könnte: Den 38-jährigen Künstler trieb wohl anderes zur Verzweiflungstat: die Unfähigkeit, menschliches Denkvermögen visuell darzustellen. Dabei ist Lehmbruck unter den expressionistischen Künstlern einer, der diesem Anspruch noch am nächsten kam. Nicht nur, indem er seine gestreckten Figuren in mehreren Prozessen dezimierte, um in ihr Innerstes vorzudringen – etwa wenn er lebensgroße Standfiguren wie den „Emporsteigenden Jüngling“(1913) zur Büste und weiter zum Kopf reduzierte. Sondern auch, weil er sich als einer der ersten unter den Zeitgenossen wie Rodin und Maillol neben traditionellen Werkstoffen (Bronze und Marmor) intensiv auch mit neuen Materialien auseinandersetzte – bemüht um eine ausdrucksstarke Wirkung seiner Figuren.
Lehmbruck, ein Getriebener zwischen Stationen und Ateliers in Düsseldorf, Paris, Berlin und Zürich, experimentierte mit Terrakotta, goss in Stein und Zement, erprobte verschiedene Techniken an gleichen Motiven. Das Ergebnis: vielfältige Farben und Oberflächen, die zu unterschiedlichen Anmutungen führten: Seine Figuren erscheinen als antike Statuen wie die aus grauer Steinmasse gegossene „Große Stehende“, deren Ebenbild in dunkel glänzender Bronze ungleich eleganter wirkt. Und sie sind anmutig wie das „Sitzende Mädchen“und die „Kleine Sinnende“aus rötlichem und beigefarbenem Stuck, deren Varianten in Gips, Bronze, Terrakotta und Zement andere Aussagen haben. In der Haltung des Kopfes, der Drehung des Körpers, in der Wahl der Proportionen und winkligen Glieder zeigt Lehmbruck mit reduzierten Formen Stimmungen von innerer Einkehr, leidvoller Qual, melancholischer Spiritualität. In ihrer „Lebensangst und Weltverträumtheit“, wie es Lehmbrucks Biograf Paul Westheim sah, kommen die Figuren auch aktuellen Gemütszuständen nahe.
Lehmbrucks Einsatz verschiedener Materialien nimmt jetzt erstmals eine Ausstellung in den Fokus. Mit „Lehmbruck. Variation und Vollendung“spüren Christiane Lange, Direktorin der Staatsgalerie Stuttgart, sowie der Lehmbruck-Experte Mario-Andreas von Lüttichau der Arbeitsweise des 1881 in DuisburgMeiderich geborenen Künstlers nach. Alle 33 ausgestellten Werke, die meisten aus Eigenbestand, sind noch zu Lehmbrucks Zeiten entstanden, der Künstler hat selbst Hand an sie gelegt.
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Staatsgalerie Stuttgart: Lehmbruck. Laufzeit bis 24. Februar 2019
Wilhelm Lehmbruck: Büste der Knienden, 1911/12