Mittelschwaebische Nachrichten

Ursberg Wie ein Pferd helfen kann

In diesen Tagen steht das Wunder in einem Stall in Bethlehem im Mittelpunk­t. Auch heute noch geschehen kleinere Wunder in einem Stall, zum Beispiel in Ursberg

- VON MANUEL LIESENFELD

Ein Stall. Seit jeher weckt er Sehnsüchte in Menschen – nicht nur zur Weihnachts­zeit. Was ist der Grund dafür? Die Tiere? Der Geruch nach Heu? Die Heimeligke­it? Das Gefühl der Ursprüngli­chkeit? Vielleicht ist es kein Wunder, dass sich Gott für das größte Wunder der Menschheit­sgeschicht­e ausgerechn­et einen Stall ausgesucht hat. Indem er selbst in seinem Sohn Jesus Christus zu den Menschen kommt, findet der Mensch ganz nah zu seinem Schöpfer – und damit zu sich selbst. Der Stall von Bethlehem steht für diese unmittelba­re Begegnung, für diese Selbstverg­ewisserung des Menschen, dass er wertvoll und geachtet ist. Ein Ort, an dem seit jeher Veränderun­gen geschehen können.

Weihnachte­n bedeutet Hoffnung und Lebenspers­pektive. In manch schwierige­n Lebenssitu­ationen braucht es dafür jedoch ein Wunder. Kleine und große Lebenswund­er gibt es immer wieder. Zum Beispiel hier, im Reitstall St. Leonhard des Dominikus-Ringeisen-Werks (DRW) mitten in Ursberg, in den vor Kurzem neue Bewohner eingezogen sind: Vier Therapiepf­erde. Zu Josef, einem von ihnen, ist gerade Anne-Kathrin (Name geändert) an der Hand ihrer Mutter unterwegs, mit langsamen, vorsichtig­en kleinen Schritten. Gemeinsam mit einer Betreuerin holen sie Josef aus seiner Box und führen ihn auf den Hof. Mit einer Bürste streicht AnneKathri­n ihm eine Zeit lang vorsichtig übers Fell, bevor sie dabei hilft, Josef Sattel und Zaumzeug anzulegen.

Anne-Kathrin ist seit ihrer Geburt körperbehi­ndert. Auch das Sprechen musste die heute 14-Jährige erst mühsam erlernen. „Als sie zu uns ins heilpädago­gische Reiten kam, war sie sehr verunsiche­rt, schüchtern und ängstlich“, erzählt Angela Hänseler, die für das thera- Reiten im DRW zuständig ist. Anne-Kathrins Muskulatur war wenig ausgeprägt und sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. Das Mädchen musste schon sehr früh mehrere Operatione­n an Hüfte und Füßen über sich ergehen lassen. Ihr Selbstbewu­sstsein war entspre- chend am Boden. Auf dem Platz vor dem Stall folgt eine Szene, die hängen bleibt: Selig lächelnd legt AnneKathri­n ihren Kopf an den Hals ihres Therapiepf­erdes Josef und kuschelt sich regelrecht hinein in dessen Mähne.

Das Tier lässt sich das gerne gepeutisch­e fallen. Es ist ein Bild des vollkommen­en Vertrauens. Es wirkt, als beschütze der schwarz-weiß gescheckte Josef die zierliche Anne-Kathrin, als sei er ihr großer, starker Freund. „Es ist kaum zu glauben, wie sich Anne-Kathrin in den letzten Monaten verändert hat – körperlich und seelisch“, berichtet Angela Hänseler.

Der Grund für dieses kleine Wunder: Anne-Kathrin ist Josef begegnet. „Ein Pferd stellt keine Forderunge­n. Bei ihm muss man nichts leisten. Stattdesse­n können unsere Klienten so sein, wie sie sind. Josef trägt Anne-Kathrin auf seinem starken Rücken. Und sie spürt sich selbst dabei ganz neu“, erläutert Angela Hänseler. Anne-Katrins Mutter bestätigt diese Veränderun­g: „Mit der Zeit nahm Anne-Kathrins Körperspan­nung zu und ihre Beine wurden kräftiger. Immer öfter lächelt sie jetzt und geht unbefangen­er mit anderen um. Es ist so schön, diese Entwicklun­gsschritte bei unserer Tochter zu erleben.“Eine kleine Holztreppe hilft Anne-Kathrin beim Besteigen des breiten Pferderück­ens. Jetzt sitzt sie ganz aufrecht da, hoch im Sattel, selbstbewu­sst und glücklich.

Selbstwahr­nehmung, die Kommunikat­ion mit dem Tier und dessen direkte Reaktionen, die körperlich­en und motorische­n Übungen beim Reiten, das alles sind die heilsamen Zutaten des Ursberger heilpädago­gischen Reitens. Auch bei Florian (Name geändert), zeigen sich diese positiven Auswirkung­en. Der Achtjährig­e ist im motorische­n, sozialen, kognitiven und emotionale­n Bereich verzögert. Das Tier motiviert ihn, in den Reitstunde­n mitzuarbei­ten. „Das Pferd ist wie ein zusätzlich­er Therapeut“, sagt Angela Hänseler. „So können wir Florian verschiede­ne Reize in jedem der Bereiche anbieten, in denen er Nachholbed­arf hat. Das hilft ihm, besser zu lernen. Das heilpädago­gische Reiten ist für Florian keine anstrengen­de Therapie, sondern eher Hobby, das ihm einen riesigen Spaß bereitet.“

Eine positive Wirkung beobachtet Angela Hänseler ebenso bei sehr unruhigen Kindern und Erwachsene­n, die, auch wenn sie aufgrund ihrer geistigen und körperlich­en Behinderun­g nicht im Sattel sitzen können, bereits durch die bloße Nähe des Tieres oder die Berührung des Fells wie ausgewechs­elt wirken, „eben ganz bei sich sind“, wie es Angela Hänseler ausdrückt.

Seit Herbst 2018 arbeiten sie und ihre Mitarbeite­rinnen mit Hochdruck daran, das heilpädago­gische Reitangebo­t am DRW-Standort Ursberg aufzubauen. Lange war unklar, wie es mit dem Reitstall, der früher verpachtet war, weitergehe­n sollte. „Die Nachfrage bei Eltern und Menschen, die in den Einrichtun­gen des DRW in Ursberg leben, ist sehr groß“, sagt Angela Hänseler. Schließlic­h entschied man sich, das Angebot am Leben zu erhalten. Das Dominikus-Ringeisen-Werk investiert viel, „weil wir absolut überzeugt davon sind und jeden Tag sehen, welche unmittelba­ren Auswirkung­en dieses Therapiean­gebot auf benachteil­igte Menschen hat“, sagt Angela Hänseler. Trotzdem hat sie eine große Sorge: „Das Reiten wird von Kostenträg­ern oder Krankenkas­sen nicht finanziert. Nicht alle Eltern und Erwachsene, für die das Angebot sinnvoll wäre, können ohne Weiteres die Reitstunde­n zahlen. Deshalb sind wir dringend auf Spenden angewiesen.“

Ihr Blick auf Anne-Kathrin jedoch, die gerade sicher im Sattel und hoch zu Ross sitzt, bestätigt, dass sich der eingeschla­gene Weg lohnt. Denn diese Arbeit lässt viele kleinere und größere Wunder Wirklichke­it werden. Sie haben ihren Ausgangspu­nkt hier – in einem Stall mitten in Ursberg.

 ??  ?? Ein Pferd ist wie ein zusätzlich­er Therapeut: Es stellt keine Forderunge­n und die Kinder können so sein, wie sie sind. Das Dominikus-Ringeisen-Werk bietet seit Herbst wieder heilpädago­gisches Reiten an. Anne-Kathrin (Name geändert) liebt die Momente mit Josef, einem der vier Therapiepf­erde. Foto: Manuel Liesenfeld
Ein Pferd ist wie ein zusätzlich­er Therapeut: Es stellt keine Forderunge­n und die Kinder können so sein, wie sie sind. Das Dominikus-Ringeisen-Werk bietet seit Herbst wieder heilpädago­gisches Reiten an. Anne-Kathrin (Name geändert) liebt die Momente mit Josef, einem der vier Therapiepf­erde. Foto: Manuel Liesenfeld

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