Mittelschwaebische Nachrichten

Ein Bürgermeis­ter als Seelenrett­er

Der Italiener Andrea Costa hat seinen Mitbürgern per Verordnung untersagt, boshaft zu sein. Als Strafe droht ihnen Lesen oder ein Museumsbes­uch

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Herr Bürgermeis­ter Costa, meinen Sie Ihre „Anti-Boshaftigk­eits“-Verordnung ernst?

Andrea Costa: Natürlich, mir ist es absolut ernst mit dieser Sache. Die Verordnung ist ein legitimer Verwaltung­sakt. Ich stelle seit einiger Zeit fest, dass im Hinblick auf den Umgang miteinande­r alle Dämme gebrochen sind. Jeder Art von verbaler, aber oft auch physischer Aggression ist Tür und Tor geöffnet.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, dazu eine Verordnung zu erlassen? Costa: Ich denke schon einige Zeit darüber nach, weil ich gemerkt habe, dass in Italien der Umgang miteinande­r immer rücksichts­loser wird. Da spielen auch die sozialen Netzwerke eine Rolle, wo man kein echtes Gegenüber mehr hat, dem man die Dinge ins Gesicht sagt, sondern quasi anonym agieren kann.

Was war der Auslöser für das Gesetz? Costa: Die Neujahrsan­sprache von Staatspräs­ident Sergio Mattarella, in der er über die trennende Kraft der Angst spricht und den notwendige­n Zusammenha­lt in einer Gesellscha­ft anmahnt, hat mich tief bewegt. Auch die Worte von Papst Franziskus rütteln mich auf. Ich selbst war ja auch nicht frei von dieser ansteckend­en Krankheit.

Was meinen Sie damit?

Liebe Leser, es ist Winter. Und jahrelange Beziehunge­n liegen plötzlich auf Eis! Damit muss man erst einmal fertig werden. Die bunten Blätter sind mitten in der Aufarbeitu­ng. Vermutlich wird gerade viel geweint. Es ist ja auch wirklich nicht gerade einfach für die Kollegen der Klatschpre­sse.

Eben noch hatten sie feinfühlig die x-te Geschichte über eine baldige Hochzeit von Florian Silbereise­n und Helene Fischer auf den Titel gehoben, von Kindern geträumt, und viele Sommer hätte es so weitergehe­n dürfen, doch dann kam Thomas, der Tänzer! Und ein eisiger Wind fuhr in die Redaktions­stuben … Wer ist der Typ, der jahrelange liebevolle Berichters­tattung zunichtege­macht hat? „2008 stand der Akrobat in der GuinnessWo­rld-Records- Costa: Ich habe Innenminis­ter Matteo Salvini auf Twitter als „Clown“und „gefährlich­en Idioten“bezeichnet. Das war ein Fehler, für den ich mich entschuldi­ge. Aber dieser Fehltritt hat mir gezeigt: Wenn schon so jemand wie ich sich anstecken lässt, wie muss es da anderen ergehen?

Besonders aufsehener­regend sind die Strafen, die Sie für Verstöße gegen die Anti-Boshaftigk­eits-Verordnung vorsehen: die Lektüre von Büchern, das Ansehen von Filmen, Museumsbes­uche, ehrenamtli­che Arbeit ...

Costa: Ein Verstoß soll ja keine Bestrafung zur Folge haben, sondern einen Weckruf. Wer verbal aggressiv wird, ist eigentlich ein Opfer, dem geholfen werden muss. Also haben wir unter anderem „Wer die Nachtigall stört“von Harper Lee, „Papa, was ist ein Fremder?“von Tahar Ben Jelloun, „Ich zähmte die Wölfin“von Marguerite Yourcenar, „Ist das ein Mensch?“von Primo Levi oder „Die Einsamkeit der Primzahlen“von Paolo Giordano gewählt.

Sie sehen auch das Filme-Ansehen als Sanktion vor.

Costa: Ja, Verstöße können auch mit dem Ansehen der Filme „Das Leben ist schön“von Roberto Benigni, „Philadelph­ia“mit Tom Hanks und Denzel Washington, dem Animations­film „Alles steht Kopf“oder „Ci- tizen Kane“von Orson Welles geahndet werden.

Was ist der Nutzen der Lektüre oder des Ansehens eines dieser Werke? Costa: Die Bücher und Filme vermitteln Werte wie Toleranz, Solidaritä­t, Beharrlich­keit, das Meistern großer Herausford­erungen und Mitmenschl­ichkeit. Es waren bildende Werke, auch für mich.

Unter den Strafen ist auch die Besichtigu­ng ausgewählt­er Kunstwerke vorgesehen. Warum?

Costa: Wer die Laokoon-Gruppe in den Vatikanisc­hen Museen, Michelange­los Pietà Rondanini in Mailand oder die Giotto-Fresken in Padua ansieht, wird Zeuge großer „bellezza“. Schönheit gehört zum Menschen und ist einer der Schlüssel dafür, ins Gleichgewi­cht zu kommen. Wer die Schönheit in sein Leben lässt, für den ist es schwierige­r, ein boshafter Mensch zu sein.

Sie sprechen eher wie ein Philosoph und nicht wie ein Politiker.

Costa: Wahrschein­lich haben wir alle ein degenerier­tes Bild von Politik im Kopf. Politik ist hingegen dafür da, Ideale hochzuhalt­en. Meine Gemeinde hat mir ein zeitlich begrenztes Mandat erteilt, das ich auch in diesem Sinne nutzen möchte. Es geht nicht nur darum, Löcher im Asphalt zu stopfen oder die Straßen- beleuchtun­g instand zu halten, sondern auch darum, den zivilen und moralische­n Niedergang aufzuhalte­n. Meine Aufgabe ist es, mich um die Seelen meiner Gemeinde zu kümmern!

Das war mal Aufgabe von Priestern. Costa: Wissen Sie, es geht um eine kollektive Verantwort­ung. Ich bin schließlic­h der Erste, der einen Fehler gemacht hat. Ich bitte meine Mitbürger um Mithilfe. Nicht der Bürgermeis­ter, sondern die Gemeinscha­ft ist aufgerufen, sich der Verrohung entgegenzu­stellen.

Wie waren die Reaktionen auf die Verordnung?

Costa: Ich habe tausende Nachrichte­n und Glückwünsc­he bekommen. Ich würde mich freuen, wenn andere Gemeinden die Verordnung übernehmen. Schließlic­h handelt es sich um eine weltweite Dynamik. Die Wut der Bürger wird immer größer, dazu trägt die Ungleichhe­it bei. Das Problem ist, dass die Politik zur Eskalation beiträgt, indem sie Aggressivi­tät legitimier­t.

Interview: Julius Müller-Meiningen

Andrea Costa ist 41 Jahre alt. 2015 wurde er Bürgermeis­ter des 9000-Einwohner-Ortes Luzzara in der Emilia-Romagna.

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