Mittelschwaebische Nachrichten
Was Jugendliche über Demenz wissen sollten
Projekt Durch die steigende Zahl erkrankter Menschen kommen immer mehr Jugendliche mit Demenz in Berührung. In Augsburg lernen Schüler mehr darüber – und welche positiven Seiten die Krankheit manchmal haben kann
Augsburg Gerade noch lenkte Rania ihren violetten Rollstuhl selbstbewusst über den geteerten Weg. Es ist das erste Mal, dass sie darin sitzt. Doch jetzt stoppt die 13-Jährige. Vor ihr liegt ein schier unüberwindbares Hindernis: Ein Bordstein, knapp zehn Zentimeter hoch. Allein schafft sie es nicht drüber. Rania muss sich jetzt auf ihre Klassenkameradin verlassen. Die stellt sich hinter sie und drückt den Rollstuhl an den Griffen nach unten. Rania kippt, schreit kurz auf, doch ihre Freundin hält den Stuhl fest. Mit den kleinen Vorderrollen in der Luft schiebt sie den vorderen Teil des Gefährts über die Kante, mit etwas Muskelkraft folgen ihm die großen Räder auf denen Ranias ganzes Gewicht liegt. Die Lektion der Übung: Menschen im Rollstuhl sind ständig auf Hilfe angewiesen, selbst bei
Rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen
Kleinigkeiten – und müssen dabei auf andere vertrauen.
Rania braucht den Rollstuhl nicht, ebenso wenig wie ihre 23 Klassenkameradinnen der Mädchenrealschule des Augsburger Stetten-Instituts. Die Übung soll ihnen vielmehr verdeutlichen, wie sich Alzheimer-Patienten jeden Tag fühlen. Was ein Rollstuhl mit der Krankheit zu tun hat? Ganz einfach: „Wer zum ersten Mal in einem Rollstuhl sitzt, ist immer auf Hilfe von anderen angewiesen. Die Schüler erleben diese Abhängigkeit nur kurz. Dementen Menschen geht es jeden Tag so“, erklärt Claudia Zerbe. Sie ist Projektleiterin des Augsburger KompetenzNetz Demenz und klärt die Schüler bei einem Projekttag über Alzheimer und Demenz auf.
Denn die Krankheit, bei der Menschen ihr Gedächtnis verlieren, bis sie irgendwann selbst einfache Dinge, wie Marmelade auf ein Brot schmieren, nicht mehr selbstständig erledigen können, betrifft viele. Allein in Augsburg leben laut der Website der Organisation knapp 5000 Menschen mit Demenz. In ganz Deutschland, das zeigen Zahlen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, sind es mehr als 1,6 Millionen. Tendenz steigend. Ein Grund dafür, sagen Experten, sei der demografische Wandel: Immer mehr Menschen werden immer älter. Damit steige auch die Zahl der Demenzkranken, so die Begründung. Das Ministerium geht sogar davon aus, dass die Zahl bis 2050 auf drei Millionen Erkrankte ansteigen wird.
Doch Alzheimer betrifft nicht nur die Patienten. Bekannte und Verwandte, die ihre Angehörigen pflegen, belastet sie ebenfalls. Auch einige Schülerinnen der Stetten-Realschule haben schon Erfahrungen mit Erkrankten gemacht, beispielsweise den Großeltern. Gerade deshalb erachtet Claudia Zerbe Aufklärungsprogramme wie den Projekttag als so wichtig. „Ein großes Problem ist, dass viele nicht wissen, wie sie mit dementen Menschen umgehen sollen“, sagt sie.
Den Schülerinnen erklärt sie das genau: Besonders wichtig sei es, offen und freundlich auf erkrankte Menschen zuzugehen. „Sie spüren wirklich immer, ob man ihnen positiv oder negativ gesinnt ist“, erklärt sie. Wichtig sei dabei auch die Körperhaltung. „Wer beispielsweise die Arme vor der Brust verschränkt, signalisiert Verschlossenheit.“Beim Sprechen sollte man den Erkrankten zudem immer direkt in die Augen schauen. Denn sonst könne es vorkommen, dass sie sich gar nicht erst angesprochen fühlen. Ein weiterer Tipp lautet: „Niemals diskutieren, auch wenn das, was die Leute erzählen, absolut unsinnig ist“, erklärt Zerbe. Denn Diskussionen brächten nichts. „Menschen mit Alzheimer weichen nicht von ihrer Meinung ab.“
Auch wenn man die Situation dementer Menschen nie ganz nachvollziehen kann, wird den 24 Schülerinnen im Lauf des Vormittags klarer, wie sie sich fühlen müssen. Übungen wie die Rollstuhlfahrt machen deutlich, was vollkommene Abhängigkeit bedeutet.
Doch dass die Krankheit manchmal auch schöne Seiten haben kann, zeigt eine andere Aufgabe. In Paaren führen sich die zwölf- bis 14-Jährigen gegenseitig durch einen Raum, vorbei an Hindernissen. Eine aus jeder Gruppe hat dabei die Augen verbunden. Immer wieder stoßen sich die Mädchen mit den Augenbinden an Stühlen und Tischen oder stolpern über am Boden liegende Hindernisse. Sie sind orientierungslos und verwirrt. Eine bleibt einfach mitten im Raum stehen, eine andere fuchtelt mit den Armen. Für die Jugendlichen muss alles langsamer ablaufen und jeder Schritt muss genau erklärt werden. Anfangs tun sie sich schwer. Doch nach und nach fällt es ihnen leichter, sich auf die Partnerin einzulassen und die Verantwortung abzugeben. Die 13-jährige Denise sagt nach der Übung: „Man fühlt sich anfangs total ausgeliefert. Ich war mir echt unsicher.“Das Fazit der Klasse? Die Abhängigkeit, die mit einer Demenz einhergeht, ist unangenehm, sie schafft aber auch Vertrauen und Nähe. Und das kann durchaus schön sein.