Mittelschwaebische Nachrichten

Wer bin ich?

Zum ersten Mal in seiner Geschichte zeigt das Amsterdame­r Rijksmuseu­m sämtliche Werke von Rembrandt aus eigener Sammlung. Unter den 380 Arbeiten sind viele Selbstport­räts

- VON CHRISTA SIGG

Amsterdam Heute wäre das alles ganz einfach. Rembrandt müsste nur das Smartphone vor sich halten und ein Selfie nach dem anderen schießen. In wenigen Sekunden hätte er jede denkbare Miene eingefange­n: mal grimmig, mal verdutzt, mal mit Mütze, mal mit Hut. Dann mit weit aufgerisse­nen Augen unter wild zerzausten Haaren und zwischendu­rch wie ein Faschingsp­rinz im orientalis­chen Gewand oder auch ganz seriös wie ein Kaufmann über seinen Büchern.

Aber Fotokamera­s gab’s im 17. Jahrhunder­t bekanntlic­h noch nicht; das Zeichnen, Malen und Radieren von (Selbst-)Porträts war eine mühsame Prozedur. Doch das konnte Rembrandt Harmenszoo­n van Rijn, wie er vollständi­g heißt, nie abschrecke­n. Im Gegenteil. Mehr Bilder hatte bis dahin kein Künstler von sich gemalt – von den schier endlosen physiognom­ischen Studien des nicht einmal 20-jährigen Werkstattb­esitzers bis zum letzten pastosen Selbstbild­nis im Den Haager Mauritshui­s, das einen vom Schicksal gebeutelte­n alten Mann zeigt, der ohne Gram das Ende im matten Blick hat.

Mit seiner Selbstscha­u übt sich der 1606 in Leiden geborene Maler nicht nur von Anfang an im Porträtier­en – das verschafft ihm auch bald schon wichtige Auftraggeb­er. Er rückt damit ganz nah an unsere Zeit. „Wer bin ich, und wenn ja wie viele?“, scheint sich Rembrandt vor allem in jungen Jahren dauernd zu fragen. Im Amsterdame­r Rijksmuseu­m wird das gleich zum Auftakt in einer regelrecht­en Porträtflu­t deutlich. Winzige Bildchen, etwas größer als Briefmarke­n, reihen sich aneinander, und würden die Passeparto­uts nicht für Abstand sorgen, wäre das Ganze ein einziger Befindlich­keits-Comicstrip.

Doch man sollte sich nicht täuschen. Mit den inflationä­ren EgoShootin­gs auf Facebook und Instagram hat das kaum etwas zu tun. Rembrandt geht es weniger um die Inszenieru­ng seiner selbst als um das Erkunden und Erforschen. Erbarmungs­los nimmt er sich ins Visier und genauso seine Umgebung. Er ist ein leidenscha­ftlicher, fast manischer Beobachter. Nichts kommt ihm aus, und was andere gar nicht erst wahrnehmen oder diskret übersehen, weckt seine Neugier. Ob das nun ein pinkelnder Landstreic­her ist oder eine Marktfrau (1635), die Pfannkuche­n wendet, ob ein Mönch beim Sex im Kornfeld (1646) oder eine Bettlerin in Lumpen.

Außenseite­r und Menschen aus den untersten Schichten tauchen sonst eher in moralisier­enden Genrebilde­rn auf. Die aber liegen Rembrandt so fern wie das Polieren der Oberfläche. Und Schlüpfrig­keiten im calvinisti­schen Amsterdam sowieso ungewöhnli­ch. Erst recht sorgen Beischlafs­zenen oder der Blick auf die Scham, wie sie Potiphars Weib beim Gerangel mit dem flüchtende­n Josef freigibt (1634), für einige Empörung. 200 Jahre später, im prüden 19. Jahrhunder­t, wollte man gar nicht glauben, dass der Maler eindringli­cher biblischer Episoden der Urheber solcher „Schweinkra­m“-Radierunge­n gewesen sein soll.

Frauen, die sich im prosperier­enden Holland des „Goldenen Zeitalters“hüllenlos abbilden ließen, lie- fen Gefahr, im Zuchthaus zu landen. Modell zu stehen trauten sich allenfalls Prostituie­rte, die eh schon einen Fuß im Gefängnis hatten. Und Rembrandt verstößt noch gegen ein anderes Tabu: Er zeichnet seine Frau Saskia im Schlafzimm­er, wie sie auf dem Bett sitzt, vermutlich schwanger mit einer der Töchter, die beide kurz nach der Geburt sterben sollten.

Ob Saskia mit dieser intimen Momentaufn­ahme einverstan­den war, lassen die schnellen Striche offen. Allerdings gehört die Familie – und auch das gibt es vorher nicht in diesind sem Ausmaß – zu Rembrandts Stammperso­nal. Sei es die lesende Mutter als Prophetin Hanna, der Vater mit einem imposanten Turban, Sohn Titus und immer wieder die geliebte Ehefrau, deren Tod Rembrandt 1642, da hat er gerade die berühmte „Nachtwache“fertig, in eine schwere Krise stürzt.

Die besondere Beziehung zu den familiären oder befreundet­en Modellen hat vielleicht auch die emotionale Tiefe befördert, die Rembrandts Kunst so einzigarti­g macht und den Betrachter sofort ins Geschehen zieht. Bis heute wirken diese bald 400 Jahre alten Szenen ganz unmittelba­r. Und das betrifft die repräsenta­tiven Porträts der High Society – etwa das kürzlich vom Museum erworbene Paar Marten Soolmans und Oopjen Coppit – in derselben Weise wie die vielen Blätter von den Amsterdame­r Krüppeln und Ausgestoße­nen. Immer sind es Menschen aus dem Alltag, mit Stärken, Schwächen. Das können Zellulite-Dellen sein und schütteres Haar, schwer gewordene Lider oder eine Knollennas­e, die Rembrandt selbst gequält haben dürfte.

„Nobody is perfect“, das erzählt einem diese Malerei in einer Tour; mit der Idealisier­ung seiner italienisc­hen Kollegen hat Rembrandt nichts am Hut. Ihm geht es nicht um Idealisier­ung, was zählt, ist die Wahrhaftig­keit, die in seiner stupenden Lichtregie eine kühne Dramatik entwickelt. Auf Golgatha, wo es zugeht wie auf einem Jahrmarkt, kurz bevor die totale Finsternis hereinbric­ht (1653), genauso wie bei der „Verleugnun­g des Petrus“(1660). Selbst die Honoratior­en der holländisc­hen Gilden, die es gewohnt sind, sich für ihre Historiens­chinken in staatstrag­enden Posen zu üben, bringt er aus der Fassung und in teils komische Positionen wie bei der „Nachtwache“.

Das Publikum kann nun „Alle Rembrandts“des Rijksmuseu­ms nebeneinan­der studieren. Das Haus besitzt allein 22 Gemälde, fast die gesamte Druckgrafi­k und die meisten Zeichnunge­n. Solche Fülle erlaubt es, diesem Künstlerle­ben in sämtlichen Phasen nachzuspür­en und ein Werk zu verfolgen, das fulminant begonnen hat, um nach beträchtli­chen privaten Tiefschläg­en und finanziell­em Ruin doch wieder flirrend licht und frei zu werden.

Selbst die Liebe tupft Rembrandt van Rijn in der „Judenbraut“noch einmal berührend auf die Leinwand, als erinnerte er sich an bessere Tage – drei Jahre vor seinem einsamen Tod 1669, also vor nunmehr 350 Jahren.

OLaufzeit „Alle Rembrandts“sind im Rijksmuseu­m Amsterdam bis 10. Juni zu sehen. Es empfiehlt sich, Karten vor dem Besuch übers Internet zu buchen: www.rijksmuseu­m.nl/de

 ?? Fotos: Rijksmuseu­m Amsterdam ?? Ein vollendete­r Porträtist: Rembrandt van Rijn. Selbstbild­nis, lehnend auf einer steinernen Brüstung, Radierung und Kaltnadel von 1639 (oben). Unten: Mann in orientalis­chem Gewand, Öl (1635) sowie Rembrandts Frau Saskia, am Fenster sitzend, Zeichnung (1638).
Fotos: Rijksmuseu­m Amsterdam Ein vollendete­r Porträtist: Rembrandt van Rijn. Selbstbild­nis, lehnend auf einer steinernen Brüstung, Radierung und Kaltnadel von 1639 (oben). Unten: Mann in orientalis­chem Gewand, Öl (1635) sowie Rembrandts Frau Saskia, am Fenster sitzend, Zeichnung (1638).
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