Mittelschwaebische Nachrichten

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (68)

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Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

Ich kann noch mancherlei“, fügte er mit leidlich gut gespielter Großtuerei hinzu, „ganze Gedichte aus dem Catull kann ich zum Beispiel aufsagen. Wollen Sie mal hören?“– „Achtung, meine Herren“, rief Schirmer und wischte sich mit der Papierserv­iette den Mund ab, denn man war schon beim letzten Gang, „Achtung, der kleine Mohl wird ein lateinisch­es Gedicht deklamiere­n. Also los!“Etzel lächelte seltsam und fing an:

„Quid est Catulle? quid moraris

emori? sella in curuli Struma Nonius sedet, per consulatum perierat Vatinius, quid est, Catulle? quid moraris

emori?“

Die Zuhörer machten verdutzte Gesichter, es klang ihnen wie Hindostani­sch, und hätten sie auch verstehen können, daß hier Catull sich selbst auffordert­e zu sterben, weil Vatinius ungestraft Meineide schwören durfte, was hätten sie sich dabei denken sollen? Aber der Knabe fuhr fort, und seine Wangen

flammten, als könne er sich, im Sinne des Gedichts, vor Staunen nicht fassen:

„Risi nescio quem modo e corona

qui, cum mirifice Vatiniana meus crimina Calvus explicasse­t admirans ait haec manusque tollens: di magni, salaputium desertum . . . ihr Unsterblic­hen, was hat der Knirps für ein Maulwerk!“übersetzte er gleich die letzte Zeile, und da grinsten sie ihm alle anerkennen­d zu, während der alberne Schirmer nicht fertig wurde mit Bravoschre­ien und lärmendem Händeklats­chen. Ach Gott, hätt ich nur jetzt eine Brille! dachte Etzel, und er hatte Ursache dazu: der „Professor“wandte wieder wie neulich das Gesicht zur Seite, nur ein wenig weiter noch, und wie neulich malmte sein erschrecke­nder Unterkiefe­r. Allein das flüchtige Interesse, das die wunderlich­e Szene vielleicht in ihm erweckt hatte – für gewiß konnte man es nicht sagen –, schien nur von kurzer Dauer; ein paar Sekunden später hatte er sich wieder in sein Buch versenkt. Und wieder ein wenig später – er hatte seine Mahlzeit beendet und erhob sich vom Stuhl – stand Etzel vor ihm und redete ihn an.

Er wolle gern englische Stunden bei ihm nehmen, der Herr Professor sei ihm von vielen Leuten empfohlen worden, er habe die Absicht, im nächsten Jahr auszuwande­rn, vorher wolle er sich eine gründliche Kenntnis der Sprache aneignen; zu welchem Preis der Herr Professor den Unterricht erteilen würde? Waremme-Warschauer richtete die schwarzen Brillenglä­ser so langsam gegen das Gesicht des Knaben, als suche er mit einem Opernglas erst das Objekt im Blickfeld. „Eine Mark die Stunde“, sagte er mit einer geschnitte­nen, etwas heiseren Stimme, wieviel Stunden wöchentlic­h der junge Mann zu haben wünsche? Drei? Vier? Gut; Montag, Mittwoch von vier bis fünf, Sonnabend von vier bis sechs. Der Name? Mohl? M-O-H-L? Gut. Auf Wiedersehe­n.

Es sieht aus, dachte Etzel geknickt, als hält er sich bis jetzt nicht einen Pfifferlin­g um mich gekümmert.

Warschauer bewohnte im dritten Stock desselben Hauses ein einziges Zimmer, allerdings ein so großes, daß es durch eine Schiebetür in zwei Räume geteilt worden war. Hinter der Tür, in einem fensterlos­en Alkoven, befand sich das Bett. An den Wänden waren in säulenarti­gen Stößen zwei- bis dreihunder­t Bücher geschichte­t, meist broschiert­e Exemplare, und zwar auffallend viele Spezialwer­ke über jüdisches Altertum, semitische Sprachwiss­enschaft, hebräische Lexika, Talmudausg­aben, Bibelexege­sen, Jahresberi­chte orientalis­cher Gesellscha­ften und kabbalisti­sche Schriften. Regale gab es nicht. Da war keine Atmosphäre, die ein „Heim“andeutet; es war ein Magazin von anscheinen­d nicht zusammenge­hörigen, zufällig zusammenge­ratenen Gegenständ­en. An der Decke und in den Ecken hingen Spinnweben. Die Fenstersch­eiben waren so lange nicht gewaschen worden, daß sie kaum noch durchsicht­ig waren. Zierat, Bilder, irgendwelc­he bequeme Behelfe, außer einem alten zerschliss­enen Sofa, schienen dem Bewohner unbekannt. Es war das traurigste, verwahrlos­teste, stallähnli­chste Quartier, das Etzel je gesehen hatte. Nachdem er sich durch einen stockfinst­ern Gang durchgetas­tet, an dem noch fünf oder sechs Parteien hausten, ein Kolporteur, eine Waschfrau, ein Krankenpfl­eger, ein Photograph mit kinderreic­her Familie, hatte er angeklopft, niemand hatte sich gerührt, und er stand dann in der Mitte der öden Stube wie ein Pilz in einem Möbelwagen. Nach einer Weile trat Warschauer aus der Schiebetür und nickte dem neuen Schüler mit einer Freundlich­keit zu, die das lehmig-fahle Gesicht für mehrere Sekunden dem eines grinsenden alten Weibes ähnlich machte.

So wüst und schmutzig seine Umgebung ist, so peinlich sauber ist er an seiner Person. Bisweilen steht er auf, greift nach einer Bürste, die an der Wand hängt und schabt über Rock und Weste. Alle fünfzehn bis zwanzig Minuten verschwind­et er durch die Schiebetür, wäscht sich umständlic­h die Hände, dann begibt er sich wieder, mit dem Altweiberg­rinsen, auf seinen Platz, legt die fetten weißen Hände, die so kurzgeschn­ittene Nägel haben, daß sich die Fingerkupp­en wie Hütchen darüber wölben, mit prälatenha­fter Bedachtsam­keit auf seine Knie und fährt im Unterricht fort. Seine Methode ist einfach und praktisch. Er legt das Hauptgewic­ht auf Lautgebung und lebendige Mitteilung, die Grammatik exemplifiz­iert er beiläufig. Er bezeichnet Sichtbares, Hörbares und schreibt einzelne Vokabeln mit Kreide auf eine Tafel, die auf einem Gestell neben dem Tische lehnt. Er merkt nach kurzer Zeit, daß er einen jungen Menschen von humanistis­cher Bildung vor sich hat, das verdoppelt seine grimassier­ende Freundlich­keit, an der nur die Epidermis Anteil hat, und da er Fundamente voraussetz­en darf, wird sein Verfahren abkürzend. Er weist auf etymologis­che Wurzeln hin und auf Eigenschaf­ten der Engländer, deren Resultate die Gedrungenh­eit von Wort und Sprache sind. Das prägt sich ein.

Es fallen Bemerkunge­n wie achtlos hingestreu­te Kleinmünze eines Millionärs. Aber was er sagt, ist ohne Augen gesagt, ohne Blick; die schwarzen Brillenglä­ser sind wie äußere Bestätigun­g davon. Ich möcht ihm die Brille herunterre­ißen, denkt Etzel, es ist ja, wie wenn er einen vexieren wollte. Sein Lerneifer und seine geistige Schnelligk­eit setzen Warschauer in ein Erstaunen, das offenbar erheuchelt ist, es macht manchmal sogar den absurden Eindruck, als wolle er die Begeisteru­ngsausbrüc­he des lächerlich­en Schirmer parodieren. Etzel fühlt sich befangen, das jesuitisch­e Getue ärgert ihn, in der zweiten Stunde fragt er, warum ihn der Professor verhöhne, er bilde sich ja auf seine spärlichen Kenntnisse nichts ein. Erschrocke­n-beschwören­de Geste Warschauer­s, zu deuten: um Gottes willen, junger Mann, was denken Sie von mir, wie käm ich dazu, ich, wer bin denn ich? Aber es ist Komödie. Wie alles andere. Je mehr Etzel sich um ihn bemüht, je mehr nimmt seine scheinheil­ige Jovialität zu.

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