Mittelschwaebische Nachrichten

Macron muss die Ungleichhe­it in seinem Land beenden

Leitartike­l Der französisc­he Präsident will seine Reformen allen Protesten zum Trotz vorantreib­en. Nur: Mit Willenserk­lärungen allein ist es nicht getan

- VON BIRGIT HOLZER hol@augsburger-allgemeine.de

Der „Big Bang“des Emmanuel Macron war mit so viel Wirbel angekündig­t worden, dass die größte Überraschu­ng nach seiner Pressekonf­erenz darin bestand, dass die Überraschu­ng ausblieb. Dem französisc­hen Präsidente­n, den die Proteste der „Gelbwesten“in Bedrängnis bringen, blieben nur zwei Möglichkei­ten: zurückzuwe­ichen – oder weiter zu marschiere­n in der Hoffnung, die Franzosen mögen folgen. Nach fast zweieinhal­b Stunden brillanter Rhetorik stand fest, dass sich Macron für das Zweite entschiede­n hatte. Kein Zurück, sondern die Beschleuni­gung seines Kurses, mit dem er eine gerechtere Gesellscha­ft verspricht. Damit bereitete er geschickt den Boden für seine umstritten­e Reform des Rentensyst­ems und der Arbeitslos­enversiche­rung.

Das ist die riskantere, die kühnere Variante. Mit einer symbolkräf­tigen Geste wie der Wiedereinf­ührung der Reichenste­uer hätte der Staatschef viele „Gelbwesten“besänftige­n und ihnen einen Erfolg im Machtkampf zugestehen können; er hätte aber seine eigene Überzeugun­g übergangen: Demnach will er Gutverdien­er nicht aus dem Land treiben, sondern zu Investitio­nen anreizen. Die enttäuscht­en „Gelbwesten“rufen zu neuen Kundgebung­en auf. Ob sie nochmals großen Druck aufbauen können, erscheint dennoch fraglich, da die Mobilisier­ung und die Unterstütz­ung der Bevölkerun­g sinken. Außerdem plant Macron durchaus soziale Kurskorrek­turen, nachdem ihm selbst bisherige Anhänger vorwarfen, seine „neoliberal­e“Politik begünstige zu einseitig die Wirtschaft und die Starken der Gesellscha­ft. Er will die kleinen Renten anheben und wieder an die Inflation ankoppeln, die Steuern in Höhe von fünf Milliarden Euro senken und stellt sein eigenes Ziel infrage, 120 000 Beamtenste­llen abzubauen. Dieses ist unvereinba­r mit der Ankündigun­g, die Schülerzah­l in allen Vor- und Grundschul­klassen auf 24 zu beschränke­n – eine starke Maßnahme, weil sie bei der Erziehung und Ausbildung der Kleinsten ansetzt. Damit einhergehe­nd bestärkte der Präsident seine in Frankreich unpopuläre Philosophi­e, dass jeder Bürger sich auch selbst anstrengen muss, während der Staat lediglich die Rahmenbedi­ngungen für die Entfaltung schaffen kann. In der Tat ist das heute nicht der Fall. Ausgerechn­et das Land, das sich die Chancengle­ichheit aller auf seine Fahnen schreibt, sortiert ab der frühesten Kindheit aus: Wo man aufwächst und welche Schule man besucht, entscheide­t über den weiteren Weg. Macron hat Abhilfe versproche­n, auch mit der Aufwertung des Lehrerberu­fs, welcher in Frankreich vergleichs­weise schlecht bezahlt ist. Nun kommt es darauf an, dies wirklich umzusetzen. Dasselbe gilt für sein Verspreche­n, das Land nicht mehr nur von einer technokrat­ischen Elite regieren zu lassen, mit der er sich selbst umgibt. Die Abschaffun­g der Kaderschmi­ede Ena erscheint dafür als starkes Symbol, um die Ausbildung der Führungskr­äfte zu modernisie­ren. Zu begrüßen ist auch die versproche­ne Dezentrali­sierung, um den Gebietskör­perschafte­n mehr Kompetenze­n zu geben und das Ausbluten ländlicher Gebiete zu stoppen, indem dort öffentlich­e Dienste angesiedel­t werden. Doch Macron darf es nicht bei wohlklinge­nden Willensklä­rungen lassen, er muss handeln. Selbst dann werden die Effekte nicht sofort, sondern erst mittelfris­tig erkennbar sein. Sollte es ihm aber gelingen, durch bessere Schul- und Ausbildung der krassen Ungleichhe­it im Land zu begegnen und Ressourcen durch Dezentrali­sierung gerechter zu verteilen, wäre das wichtiger für Frankreich als jeder laute „Big Bang“.

Die Abschaffun­g der Kaderschmi­ede ist ein erster Schritt

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany