Mittelschwaebische Nachrichten
Den Feind im Blick
Krieg Seit 2001 ist die Bundeswehr in Afghanistan im Einsatz. Am Anfang ging es vor allem darum, dem geschundenen Land zu helfen. Heute fühlen sich viele Soldaten wie lebendige Zielscheiben. Und ein Ende der Mission am Hindukusch ist nicht in Sicht
Mazar-i-Sharif/Kabul Die Stelle für den Hinterhalt hat der mutmaßliche Taliban-Kämpfer sorgfältig ausgewählt. Hinter einer Mauer platziert er das Maschinengewehr. Im Schatten eines Schuppens wähnt er sich sicher. Von seinem Versteck aus hat er die staubige Straße im Norden Afghanistans perfekt im Blick. Er weiß, dass die internationalen Truppen diesen Abschnitt häufig passieren müssen. Dann beginnt das Warten – auf die Gelegenheit, möglichst viele der verhassten Feinde zu töten. „Ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit“, heißt es in Afghanistan, wo seit rund 40 Jahren gekämpft wird. Rund 2000 der Männer und Frauen, denen die islamistischen Taliban-Rebellen nach dem Leben trachten, sind nur wenige Kilometer entfernt stationiert, nahe der Stadt Mazar-i-Sharif. Das Feldlager Marmal, eine steinige Fläche mit Blechhallen, Zelten und Containern, so groß wie 525 Fußballfelder, ist die Basis für die Nato-geführte Mission „Resolute Support“(„Entschlossene Unterstützung). Ziel ist die Ausbildung und Unterstützung der afghanischen Streitkräfte, die seit Jahren erbittert gegen die aufständischen Taliban kämpfen. Zugleich unterstützt die US-Armee die Afghanen im Rahmen der Operation „Freedom Sentinel“(„Freiheitswächter“) aktiv bei Kampfhandlungen. Die internationalen Truppen aber, darunter bis zu 1300 deutsche Soldaten, dürften ihre Waffen nur benutzen, um sich selbst oder etwa Angehörige von Hilfsorganisationen zu verteidigen. Doch die Taliban „unterscheiden nicht nach Mandat“, sagt der deutsche Oberleutnant Torben S., der seinen Nachnamen zu seinem persönlichen Schutz nicht nennen will. Bei Fahrten außerhalb des Lagers könne es „jederzeit zu Extremsituationen kommen“. Torben S. hat die Aufgabe, die internationalen Ausbilderteams sicher in ein Camp der afghanischen Armee, etwa eine halbe Stunde entfernt, zu bringen. Während ein schneidender Wind Regentropfen durch das Feldlager am Fuß des Hindukusch peitscht, erklärt Torben S., welche Gefahren dabei drohen: „In der Straße können Sprengfallen vergraben sein, es gibt Selbstmordattentäter, die versuchen, mit einem mit Sprengstoff vollgepackten Wagen den Konvoi zu rammen. Hinterhalte durch Heckenschützen drohen täglich.“Schutz sollen massiv gepanzerte Fahrzeuge wie der „Dingo“bieten. Sechs Mann haben darin Platz, aber es wird eng, wenn alle wie vorgeschrieben Helm und Splitterschutzweste tragen. Auf dem Dach ist ein Maschinengewehr montiert, das aus dem Innenraum bedient werden kann. Rund 20 Mann und bis zu fünf Fahrzeuge sind nötig, um einen Trainer zu beschützen. Der bärtige österreichische EliteGebirgsjäger Armin ist einer der internationalen Ausbilder, die helfen sollen, aus den offiziellen afghanischen Truppen eine Armee zu formen, die selbst für Ordnung im Land sorgen kann. „Wir beraten die afghanischen Instruktoren, etwa bei der Grundausbildung der Truppen, bei Patrouillen per Fahrzeug oder zu Fuß oder beim Aufbau von Straßensperren“, sagt er. Dabei gebe es stetige, aber quälend langsame Fortschritte. Oft fehle es an grundlegenden Fähigkeiten, nicht wenige Rekruten seien Analphabeten. Andere berichten von einer teils schlechten Moral der afghanischen Truppen. Was kein Wunder sei, wenn diese lange nicht bezahlt würden, nichts zu essen und nur mangelhafte Ausrüstung hätten. Frust herrscht bei Ausbildern zudem über Rekruten, die von den afghanischen Autoritäten nach verwandtschaftlichen Beziehungen oder Stammeszugehörigkeit ausgewählt würden. Die Ausbildungsmission ist für die Trainer höchst riskant. Denn in den Kasernen und Camps der afghanischen Armee besteht stets die Gefahr, dass Taliban-Kämpfer sich als „Schläfer“unter die Soldaten mischen. Armin berichtet von Fällen, in denen die Taliban drohten, die Familie eines Soldaten zu töten, und so ein Attentat einforderten. Für die Propaganda der Taliban sei es besonders „wertvoll“, Ausländer zu töten. Jeder Ausbilder bekommt daher schwerbewaffnete „Beschützer“an die Seite, die geschult sind, verdächtiges Verhalten zu erkennen. Trotzdem sagt Armin: „Es wäre ein Fehler, sich sicher zu fühlen.“Gerson Seiß, der evangelische Militärpfarrer, weiß wie kaum ein anderer um die Seelenlage der Soldaten. Bei einer Gedenkfeier auf dem Ehrenhain des Feldlagers Marmal erinnert er an die 58 deutschen Kameraden, die nicht in die Heimat zurückgekehrt sind, „Väter, Ehemänner, Partner, Söhne.“Und an die vielen, die Verletzungen an Körper und Seele davontrugen. Seit am 20. Dezember 2001 das ISAF-Mandat beschlossen wurde, haben Schätzungen zufolge rund 90000 Bundeswehrsoldaten in Afghanistan gedient, oft in mehreren Missionen, die meist ein halbes Jahr dauern. Nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 hatte die Nato erstmals den Bündnisfall ausgerufen. Schließlich hatte das in Afghanistan herrschende Taliban-Regime den El-Kaida-Terroristen, die hinter den Anschlägen steckten, Schutz geboten. Am Anfang, sagt der Pastor, seien viele deutsche Soldaten gekommen, weil sie dem geschundenen Land helfen wollten. Um Schulen zu errichten, Brunnen zu bohren, Brücken zu bauen. Nicht, um als Besatzer aufzutreten. Seiß erzählt von Soldaten, die den Kontakt zu Dorfbewohnern suchten, ohne Helm, auf offenen Fahrzeugen saßen und Kindern winkten. Doch die Sicherheitslage änderte sich bald drastisch. Zunehmend fühlten sich die Soldaten wie lebendige Zielscheiben, wenn sie durch das Land fuhren. An der bewegenden Zeremonie für die Opfer nehmen nicht nur Soldaten teil. Auch Abgeordnete des Deutschen Bundestags, der regelmäßig über eine Verlängerung des Mandats entscheiden muss, sind nach Mazar-i-Sharif geflogen, um sich über die Lage zu informieren. Leiter der Delegation ist Thomas Silberhorn (CSU), parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium. Von hochrangigen deutschen Militärs und Diplomaten im Land erfahren die Parlamentarier, dass sich weite Teile Afghanistans unter Taliban-Kontrolle befinden, von bis zu der Hälfte der Fläche ist die Rede. Doch die Extremisten kontrollieren vor allem ländliche Gebiete, die Hauptstadt Kabul und die meisten Provinzhauptstädte sind in der Hand der Regierung, die bei den Taliban als MarionettenRegime der Amerikaner gilt. Noch komplizierter wird die Situation durch das Erstarken der „Daesh“, wie die Kämpfer der Terrormiliz Islamischer Staat genannt werden. Einige Tausend sollen es mittlerweile in Afghanistan sein, darunter Europäer, vermutlich auch Deutsche. Den IS bekämpfen die Taliban ebenso erbittert wie die Regierungstruppen. In all dem Chaos sehen Beobachter aktuell aber auch einen Hoffnungsschimmer. In Doha, der schillernden Hauptstadt des Golf-Emirats Katar, loten Taliban-Vertreter seit Monaten mit Unterhändlern der USA eine mögliche Friedensregelung aus. Zuletzt sollte es auch ein Gespräch zwischen Taliban und Vertretern der offiziellen afghanischen Regierung geben. Doch das Treffen scheiterte in letzter Minute am Streit über Größe und Zusammensetzung der Delegationen. Nun heißt es, in einigen Wochen könnte es einen weiteren Anlauf geben. Austin „Scott“Miller ist Befehlshaber der Nato-Mission und der US-Truppen in Afghanistan. Wenn der drahtige US-General im von meterhohen Betonmauern geschützten Hauptquartier in Kabul seine Soldaten zum Zirkeltraining bittet, werden Traktorreifen zu Fitnessgeräten. Sein Sprecher, der deutsche Oberst Knut Peters, sagt: „Wir betrachten die Taliban nicht als Bedrohung für die Nato, sondern als Afghanen, die integraler Bestandteil einer Zukunftslösung für dieses Land sein müssen.“Wichtigstes Ziel bleibe, dass Afghanistan nie wieder sicherer Rückzugsort für Terroristen sein dürfe. Doch neben den Taliban gebe es eine Reihe terroristischer Gruppen, darunter der IS, die eine Bedrohung für andere Länder darstellten. Und das ist nicht die einzige Unwägbarkeit. Dass Donald Trump zuletzt ankündigte, die Truppenstärke in Afghanistan zu reduzieren mit dem Ziel, den Einsatz letztlich zu beenden, hat bei der deutschen Regierung Skepsis ausgelöst. In Berlin heißt es, dass ohne die Amerikaner der Afghanistan-Einsatz nicht mehr möglich wäre. Die Deutschen etwa sind auf US-Hubschrauber ebenso wie auf Geheimdienstinformationen dringend angewiesen. Eine voreilige Abzugsankündigung könne zudem die Position in den Verhandlungen mit den Taliban schwächen. An einer langfristigen Unterstützung der afghanischen Armee führt für die Bundesregierung kaum ein Weg vorbei. Verteidigungsstaatssekretär Silberhorn glaubt: „Es wird viele kleine Schritte und einen langen Atem erfordern, in Afghanistan Frieden zu schaffen.“Die deutsche Beteiligung an der Ausbildungs- und Unterstützungsmission sei daher ein wichtiger Teil des internationalen Krisenmanagements. Silberhorn weiter: „Die Beispiele der Krisen in Irak und Syrien zeigen, dass sich die Lage immer weiter verschlechtert, wenn keine langfristige Stabilisierung angestrebt wird. Was man begonnen hat, muss man auch zu Ende bringen.“Er sei überzeugt, „dass das die Amerikaner auch so sehen“. Er hoffe, dass die militärische „Pattsituation“zwischen Taliban und Regierungslager nun die Bereitschaft zu Verhandlungen erhöhe. Eine Prognose, wie lange der Bundeswehr-Einsatz hier noch dauern wird, wagt Silberhorn nicht. Im Feldlager bei Mazar-i-Sharif geht der gefährliche Alltag der Ausbilder und ihrer Beschützer weiter. Doch der Feind ist zumindest nicht mehr so unsichtbar wie zu Beginn. So ahnt der Kämpfer, der mit dem Maschinengewehr hinter der Mauer lauert, nicht, dass er aus einigen Tausend Metern Höhe von einer deutschen Aufklärungsdrohne beobachtet wird. Auf den Bildern, die ins Feldlager überspielt werden, erkennt ein Bundeswehr-Analyst die Gefahr. Der Konvoi nimmt an diesem Tag einen anderen Weg.
20 Mann und fünf Fahrzeuge beschützen einen Ausbilder Ohne die Amerikaner ist der Einsatz nicht möglich