Mittelschwaebische Nachrichten
Zwischen Euphorie und Verelendung
Literaturherbst Norris von Schirach las aus „Blasse Helden“. Der Roman klärt, warum Russland auf Putin setzte
Krumbach Vor 30 Jahren änderten sich die politischen Verhältnisse auf der Welt grundlegend: Die Mauer fiel, die Sowjetunion löste sich auf, der Kalte Krieg schien überwunden. Anita Roth, Leiterin des Mittelschwäbischen Heimatmuseums, hatte Norris von Schirach eingeladen, aus seinem Roman „Blasse Helden“zu lesen. Sie begründete es damit, dass wir Deutschen fasziniert auf die friedliche Revolution in der DDR blickten, auf Mauerfall und Wiedervereinigung, aber kaum wahrnähmen, was sich seinerzeit im Osten ereignet habe. Norris von Schirach war live mit dabei, als die Berliner freudetrunken auf der Mauer saßen und er ging, wie die Hauptfigur Anton in seinem Roman, im Jahr 2003 als Rohstoffexperte in das Russland unter Boris Jelzin. In seinem Roman möchte er das Lebensgefühl in einem Staat aufzeigen, dessen Macht sich auflöste. Eben noch unter der harten Diktatur des Sowjetregimes, erleben die Russen einen Umschwung in geradezu anarchische Zustände. Es schien damals alles möglich und erlaubt. Die Befreiung und ihre euphorische Stimmung wichen aber bald einer großen Unsicherheit und moralischen Leere. Die Russen verloren ihr Selbstwertgefühl, glaubten sich vom Westen ausgetrickst und aufgekauft. Während einige wenige in kurzer Zeit abenteuerlich reich wurden, verelendeten die Massen. Zu Korruption und Hunger gesellte sich schließlich auch der Terror. Die Zeit wurde reif für Putin, von dem sich die Russen stabile Verhältnisse und wirtschaftlichen Aufschwung versprachen. Norris von Schirach lässt Anton, den Helden des Romans, nur beobachten. Anton werte nicht, er kommentiere nicht, er begleite all das Geschehen ein wenig gelangweilt, sagt Norris von Schirach über seine Romanfigur. Dabei gäben die Zustände genügend Stoff zu Kritik, Abscheu und Betroffenheit. Drei Szenen las der Autor. Die erste führte in einen Luxusklub, wo neureiche, „prächtige, unverbrauchte Barbaren“den Nachkommen der ehemaligen sowjetischen Machtelite ihre originelle Verruchtheit vorführen und zeigen, dass man alles kaufen kann. In der zweiten Szene muss Kerosin für einen Inlandsflug nach Sibirien „organisiert“werden. Die dritte Szene skizziert eine Weihnachtsfeier im Haus des Arbeitgebers von Anton. Hier vermischen sich weihnachtliche Sentimentalität und Kultur mit Protz und Primitivität. In der Tat, in diesen Szenen scheint den Menschen die moralische Basis abhandengekommen zu sein. Sie agieren gleichsam ohne Wertekompass in einen diffusen Bereich hinein, Opfer ihrer Launen und der eigenen Unberechenbarkeit. Im Gespräch und in der Diskussion an diesem Abend klang immer wieder etwas Sympathie für Boris Jelzin an, den Norris von Schirach eine tragische Figur nannte. Wenig sympathisch hingegen wirken die Figuren im Buch, insbesondere nicht die Frauen, jedenfalls nicht die Frauen in den vorgetragenen drei Szenen. Er habe gleichsam eine Hymne auf starke Frauen schreiben wollen, erklärte der Autor. Der Buchtitel „Blasse Helden“beziehe sich auf die Männer. Inwiefern die Frauen stark sind und ob sie als solche auch sympathisch wirken, das blieb dann eine offene Frage.