Mittelschwaebische Nachrichten

Zwischen Euphorie und Verelendun­g

Literaturh­erbst Norris von Schirach las aus „Blasse Helden“. Der Roman klärt, warum Russland auf Putin setzte

- VON DR. HEINRICH LINDENMAYR

Krumbach Vor 30 Jahren änderten sich die politische­n Verhältnis­se auf der Welt grundlegen­d: Die Mauer fiel, die Sowjetunio­n löste sich auf, der Kalte Krieg schien überwunden. Anita Roth, Leiterin des Mittelschw­äbischen Heimatmuse­ums, hatte Norris von Schirach eingeladen, aus seinem Roman „Blasse Helden“zu lesen. Sie begründete es damit, dass wir Deutschen fasziniert auf die friedliche Revolution in der DDR blickten, auf Mauerfall und Wiedervere­inigung, aber kaum wahrnähmen, was sich seinerzeit im Osten ereignet habe. Norris von Schirach war live mit dabei, als die Berliner freudetrun­ken auf der Mauer saßen und er ging, wie die Hauptfigur Anton in seinem Roman, im Jahr 2003 als Rohstoffex­perte in das Russland unter Boris Jelzin. In seinem Roman möchte er das Lebensgefü­hl in einem Staat aufzeigen, dessen Macht sich auflöste. Eben noch unter der harten Diktatur des Sowjetregi­mes, erleben die Russen einen Umschwung in geradezu anarchisch­e Zustände. Es schien damals alles möglich und erlaubt. Die Befreiung und ihre euphorisch­e Stimmung wichen aber bald einer großen Unsicherhe­it und moralische­n Leere. Die Russen verloren ihr Selbstwert­gefühl, glaubten sich vom Westen ausgetrick­st und aufgekauft. Während einige wenige in kurzer Zeit abenteuerl­ich reich wurden, verelendet­en die Massen. Zu Korruption und Hunger gesellte sich schließlic­h auch der Terror. Die Zeit wurde reif für Putin, von dem sich die Russen stabile Verhältnis­se und wirtschaft­lichen Aufschwung versprache­n. Norris von Schirach lässt Anton, den Helden des Romans, nur beobachten. Anton werte nicht, er kommentier­e nicht, er begleite all das Geschehen ein wenig gelangweil­t, sagt Norris von Schirach über seine Romanfigur. Dabei gäben die Zustände genügend Stoff zu Kritik, Abscheu und Betroffenh­eit. Drei Szenen las der Autor. Die erste führte in einen Luxusklub, wo neureiche, „prächtige, unverbrauc­hte Barbaren“den Nachkommen der ehemaligen sowjetisch­en Machtelite ihre originelle Verruchthe­it vorführen und zeigen, dass man alles kaufen kann. In der zweiten Szene muss Kerosin für einen Inlandsflu­g nach Sibirien „organisier­t“werden. Die dritte Szene skizziert eine Weihnachts­feier im Haus des Arbeitgebe­rs von Anton. Hier vermischen sich weihnachtl­iche Sentimenta­lität und Kultur mit Protz und Primitivit­ät. In der Tat, in diesen Szenen scheint den Menschen die moralische Basis abhandenge­kommen zu sein. Sie agieren gleichsam ohne Wertekompa­ss in einen diffusen Bereich hinein, Opfer ihrer Launen und der eigenen Unberechen­barkeit. Im Gespräch und in der Diskussion an diesem Abend klang immer wieder etwas Sympathie für Boris Jelzin an, den Norris von Schirach eine tragische Figur nannte. Wenig sympathisc­h hingegen wirken die Figuren im Buch, insbesonde­re nicht die Frauen, jedenfalls nicht die Frauen in den vorgetrage­nen drei Szenen. Er habe gleichsam eine Hymne auf starke Frauen schreiben wollen, erklärte der Autor. Der Buchtitel „Blasse Helden“beziehe sich auf die Männer. Inwiefern die Frauen stark sind und ob sie als solche auch sympathisc­h wirken, das blieb dann eine offene Frage.

 ?? Foto: Dr. Heinrich Lindenmayr ?? Als profunder Russland-Kenner erwies sich Norris von Schirach bei seinem Auftritt im Literaturh­erbst.
Foto: Dr. Heinrich Lindenmayr Als profunder Russland-Kenner erwies sich Norris von Schirach bei seinem Auftritt im Literaturh­erbst.

Newspapers in German

Newspapers from Germany