Mittelschwaebische Nachrichten
Boris Johnsons Nervenkrieg
Großbritannien Seine eigenen Parteifreunde demütigen den Premierminister im Parlament. Wie es nun weitergeht
London Während die Abgeordneten drinnen im ehrwürdigen Westminster-Palast debattieren, strömen diesen Samstag hunderttausende Menschen auf die Straßen Londons. Sie trommeln und tanzen, fordern lautstark „Stop Brexit“und pfeifen in Richtung der alten Gemäuer des Parlaments. „Wir haben das Gefühl, dies ist die letzte Chance, unsere Stimmen hörbar zu machen, es steht so viel auf dem Spiel“, sagt Ellie.
In der Hand trägt die 25-Jährige ein Schild, auf dem sie die „LeaveLügner“anprangerte, vorneweg Premierminister Boris Johnson, der ihrer Meinung nach allein seine Karriere im Blick hat. „Es spielt keine Rolle, ob wir die Nase voll vom Brexit-Drama haben“, sagt eine andere Demonstrantin. „Es geht um die langfristigen Folgen und welche Auswirkungen dieser absolut schreckliche Deal für unser Land haben würde“, betont sie. „Wir müssen es einfach schaffen und den EU-Austritt stoppen.“Doch sie klingt nicht optimistisch.
Immerhin: Noch vor wenigen Wochen bekräftigte der britische Premierminister in typisch exzentrischer Johnson-Manier, er würde lieber tot im Graben liegen, als in Brüssel um eine Verlängerung der Scheidungsfrist zu bitten. Am Sonntag, so darf an dieser Stelle eingefügt werden, weilte Boris Johnson quicklebendig in der Downing Street Nummer zehn. Einen Aufschub des Brexit-Termins hat er dennoch – wie vom Gesetz verlangt – am Vorabend beantragt.
In dem Versuch, sich von der Anfrage zu distanzieren, schickte die Regierung gleich drei Briefe an EURatspräsident Donald Tusk. Unter dem ersten, der komplett in Anführungszeichen gehalten ist, fehlen sowohl die Unterschrift sowie der Name des Premiers. Im zweiten, handschriftlich unterschriebenen Brief an „Dear Donald“bezeichnete Johnson einen Aufschub als Fehler. Um in keine Schwierigkeiten mit dem Gesetz zu geraten und mögliche Missverständnisse auszuräumen, verfasste dann noch der britische EU-Botschafter Tim Barrow einen Begleitbrief, in dem klargestellt wird, dass das erste Schreiben nur abgeschickt worden sei, um sich an die Gesetzesvorgaben zu halten.
„Johnson verhält sich ein bisschen wie ein verzogener Rotzbengel“, schimpft der oppositionelle Labour-Politiker John McDonnell über das nun „Letter-Gate“getaufte Brief-Chaos. Johnson war dazu wegen einer Niederlage im Unterhaus gezwungen.
Dabei sollte der sogenannte „Supersamstag“eigentlich in die Geschichte des Königreichs eingehen – und Johnson gleich mit, als Premier, der den EU-Austritt über die Ziellinie bringt. Doch zur Abstimmung über das Abkommen kam es gar nicht: Stattdessen vertagten die Parlamentarier die Entscheidung. Sie stimmten für einen Änderungsantrag, der besagt, dass das Parlament Johnsons Vertrag erst endgültig grünes Licht gibt, wenn das gesamte für den EU-Austritt nötige Gesetzespaket verabschiedet ist.
Der konservative Abgeordnete Oliver Letwin hatte die Initiative eingebracht. Dabei unterstützt der Tory-Politiker das Abkommen sogar und will bei der wahrscheinlichen Abstimmung am Dienstag dafür votieren. Antrieb für seine Intervention war die Sorge, dass das Gesetz noch scheitern und am 31. Oktober doch ein harter Brexit ohne Deal drohen könnte. Um das Vertrauen in die Regierung – selbst in den eigenen konservativen Reihen – steht es offenbar nicht allzu gut. Der Antrag ging 322 zu 306 durch.
Offenbar will sich Brüssel mit einer Antwort erst einmal Zeit lassen. EU-Ratspräsident Tusk werde die übrigen 27 Mitgliedstaaten „in den nächsten Tagen“konsultieren, sagte der Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier. In Brüssel hofft man, dass das Unterhaus vielleicht schon am Dienstag den Deal billigen könnte und eine Fristverlängerung unnötig wird. Falls das Europaparlament den Kompromiss rechtzeitig absegnet, könnte das Königreich tatsächlich an Halloween aus der EU scheiden. Sollten die britischen Abgeordneten das Abkommen jedoch ablehnen – und bislang wagen Beobachter keine Prognosen –, müssten die Staats- und Regierungschefs einstimmig beschließen, ob und für wie lange der Brexit aufgeschoben wird. Die Brexit-Gegner hoffen, dass in diesem Fall ein zweites Referendum in Reichweite rücken könnte.