Mittelschwaebische Nachrichten

Volle Kraft voraus in Richtung Untergang

Nach der Wahl des neuen Parteiduos Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken herrscht selbst in der SPD eine gewisse Sprachlosi­gkeit. Wie es zu dem denkwürdig­en Ergebnis kommen konnte und warum dies auch ein Sieg für Kevin Kühnert ist

- VON STEFAN LANGE

Berlin Die Zentrale der SPD ist ein spitz zulaufende­r Bau, der mit Absicht an den Bug eines Schiffes erinnert. Oben auf dem Willy-BrandtHaus weht die rote Parteiflag­ge, das Gebäude im Bezirk Kreuzberg wurde vor genau 20 Jahren bezogen. Damals ging es der SPD noch gut, mit Gerhard Schröder stellte die stolze Partei gar den Kanzler und die Architektu­r stand für ein stolzes sozialdemo­kratisches Schiff, das unbeirrt durch die politische­n Untiefen pflügt. Seit diesem Wochenende symbolisie­rt das Haus eher die Titanic: Die SPD steuert auf den todbringen­den Eisberg zu – und das Hausorches­ter spielt weiter, als sei nichts passiert.

Womöglich sollte man sich tatsächlic­h das Datum dieses denkwürdig­en Samstagabe­nds einprägen: Der 30. November 2019 könnte einst als der Tag in die Geschichts­bücher eingehen, an dem die SPD endgültig den Anfang des eigenen Endes einläutete. An dem sie den Weg einschlug, den die Sozialiste­n in Frankreich bereits bitter hinter sich gebracht haben. An dem sie Kurs nahm auf die Nebel des Vergessens. Abzutauche­n. Eine Erinnerung zu sein, aber keine aktive politische Rolle mehr zu spielen. In Schönheit gestorben – weil der SPD am Ende die reine Lehre stets wichtiger war als die Macht.

Dutzende Freiwillig­e sind an diesem 30. November im WillyBrand­t-Haus dabei, die Stimmen der Stichwahl für die neue Doppelspit­ze auszuzähle­n. Nach quälend langen Wochen mit 23 Regionalko­nferenzen, einer ersten und einer zweiten Abstimmung soll heute endlich feststehen, wer die SPD in die Zukunft steuert: Olaf Scholz und Klara Geywitz oder Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken. Viele in- und außerhalb der SPD hoffen, dass Scholz und Geywitz gewinnen. Eigentlich sind die meisten sogar davon überzeugt. Warum sollte auch sein, was nicht sein darf? Der Vizekanzle­r und die Brandenbur­gerin stehen immerhin für eine Fortsetzun­g des Regierungs­bündnisses. Sie lassen einen klaren Kompass erkennen, und der ist auf einen stabilen Kurs Richtung Große Koalition eingestell­t. Mit Scholz und Geywitz, denken viele, wird es einfacher.

Während der Stimmauszä­hlung dringt zunächst nichts nach außen. Für 18 Uhr ist die offizielle Bekanntgab­e des Ergebnisse­s geplant – kurz vorher bekommt die Geheimhalt­ung Löcher. Auf dem Kurznachri­chtendiens­t Twitter gibt es erste Tweets, die auf eine Überraschu­ng hindeuten. Es gebe „Hinweise, dass es Walter-Borjans und Esken werden“, schreibt einer. Die Spannung steigt, die Unruhe im Foyer des Willy-Brandt-Hauses, im Bug des Schiffes, nimmt zu.

Dann, es ist immer noch nicht 18 Uhr, ertönt so etwas wie ein Korkenknal­l. Das Geräusch kommt aus irgendeine­m der vielen Räume in der mehrstöcki­gen SPD-Zentrale.

Woher, das lässt sich nicht genau identifizi­eren. Dann aber brandet hinter den Kulissen auch noch kurz Applaus auf. Im Foyer, in dem sich mehrere Dutzende Journalist­en auch internatio­naler Medien versammelt haben, macht die Nachricht die Runde, dass die Jusos schon mal feiern, und damit ist die Sache so gut wie eindeutig. Denn der SPD-Parteinach­wuchs mit dem Vorsitzend­en Kevin Kühnert hat sich bereits frühzeitig für das linke Duo Walter-Borjans und Esken ausgesproc­hen. Wenn sie jubeln, kann das nur eines bedeuten.

Und so ist es auch. Als wenig später die Interimsvo­rsitzende Malu Dreyer vor die Mikrofone tritt, um das Ergebnis zu verkünden, stellt sie Walter-Borjans und Esken als das Sieger-Team vor. Der frühere nordrhein-westfälisc­he Finanzmini­ster und die Bundestags­abgeordnet­e aus Baden-Württember­g bekommen 53,06 Prozent der Stimmen. Scholz und Geywitz landen mit 45,33 Prozent auf dem zweiten Platz. Es ist wie der Sieg von David gegen Goliath – und damit ja irgendwie typisch SPD, die Partei, die ein sehr gespaltene­s Verhältnis zum eigenen Establishm­ent hat. Große Namen hatte sie schon an ihrer Spitze, manche sind bis heute Heilsfigur­en, andere werden verteufelt. Willy Brandt, Gerhard Schröder, Sigmar Gabriel. Jetzt hat sie Walter-Borjans und Esken. „Ich bin völlig baff“, schreibt FDPChef Christian Lindner auf Twitter. Er ist nicht der Einzige.

Das Gesicht von Olaf Scholz gibt ziemlich gut die Stimmung im Saal wieder. Der stets so kontrollie­rte – und mit einem Hang zur Selbstgefä­lligkeit ausgestatt­ete – Bundesfina­nzminister wirkt verwirrt, er weiß nicht so genau, wie er mit der Niederlage umgehen soll. Später wird er sagen, dass er natürlich Finanzmini­ster bleiben wird, dass der Ausgang der Wahl keine Auswirkung auf seine Regierungs­arbeit hat. Ein paar pflichtsch­uldige Sätze noch, er wünsche den Siegern alles Gute. Dann verschwind­et er.

Der Hanseat, der vielen in der eigenen Partei suspekt ist, wusste, dass es eng werden würde. Er hatte zusammen mit Geywitz aber bis zuletzt gehofft, dass es für ihn reicht. Scholz hatte darauf gesetzt, insbesonde­re die langjährig­en Mitglieder für sich gewinnen zu können, sagt einer aus seinem Umfeld. Er machte deshalb auch bis zum Schluss offensiv Werbung für die Möglichkei­t, die Stimme per Brief abzugeben – notfalls auch ohne Briefmarke. Doch einen Begeisteru­ngssturm konnte er damit nicht entfachen. Besonders ernüchtern­d: Nur etwas mehr als die Hälfte der Mitglieder beteiligte sich überhaupt an der Abstimmung.

Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans, die Siegerin und der Sieger, haben an diesem 30. November im Willy-Brandt-Haus ein bisschen Zeit, um sich zu sammeln. Doch selbst die reicht nicht. Mit dem Erfolg haben sie ganz offensicht­lich nicht gerechnet. Beide reden mit fast brüchiger Stimme, geben Allgemeinp­lätze von sich, etwa, dass sie sich bei ihren Familien und ihren Unterstütz­ern bedanken. Beide halten hilflos einen Daumen hoch für die Pressefoto­s, Walter-Borjans hat dabei meist auch noch die Augen geschlosse­n, was insgesamt ein wenig stolzes Bild ergibt. Wer mag, kann den Selbsttest machen und sich den Auftritt der beiden zukünftige­n SPD-Kapitäne mal ohne Ton anhören: Wer nur Mimik und Gestik sieht, könnte meinen, hier würden sich soeben die Verlierer erklären.

In der Tat stellt sich bei vielen im Saal die Frage, wie die beiden die SPD wieder auf Kurs bringen wollen. Walter-Borjans hat es zum nordrhein-westfälisc­hen Finanzmini­ster gebracht. Einige Bekannthei­t erlangte er durch den Aufkauf von Daten-CDs, mit deren Hilfe Steuersünd­er überführt werden konnten. Die Silberling­e kosten allerdings mehrere Millionen Euro, die Aktion ist grundsätzl­ich umstritten. Womit Walter-Borjans auch noch auffiel: Mehrere seiner Länderhaus­halte waren verfassung­swidrig. Der 67-Jährige, der eigentlich schon im politische­n Ruhestand war, verantwort­ete einen enormen Aufwuchs an Schulden in NRW. Der Spiegel veräppelte den „Nowabo“genannten Norbert Walter-Borjans als „Nowabofaki­s“– in Anspielung an den griechisch­en Pleite-Finanzmini­ster Yanis Varoufakis.

Wodurch Saskia Esken auffiel? Allenfalls durch eine gewisse Unbeliebth­eit in den eigenen Reihen, wie Abgeordnet­e der SPD berichten. Ministerpr­äsident Stephan Weil sagte über die weithin unbekannte Hinterbänk­lerin aus der eigenen Partei, dass sich ihm die Nackenhaar­e sträuben. Von 2013 bis 2015 war sie Vizechefin der leidgeprüf­ten Baden-Württember­g-SPD. 2016 wurde sie noch nicht einmal dort wiedergewä­hlt. Absprachen seien nicht ihr Ding, heißt es bei Insidern, ihre Positionen seien dafür, nun ja, flexibel. Auch an diesem Wochenende bleibt vieles offen: Ob sie die Große Koalition fortsetzen wollen oder nicht, dazu äußern sich die beiden GroKo-Kritiker nicht. Dabei geht ein Großteil ihres Siegs wohl auf Stimmen jener Sozialdemo­kraten zurück, die lieber heute als morgen die harte Regierungs­bank räumen würden. Die beiden designiert­en SPD-Kapitäne – sie müssen am Freitag noch von einem Parteitag offiziell bestätigt werden – hinterlass­en im Willy-Brandt-Haus viele Frage-, aber keine Ausrufezei­chen.

Freude gibt es an diesem schicksals­trächtigen Abend nur in einer Ecke des Willy-Brandt-Hauses. Dort haben sich die Jusos rund um ihren streitbare­n Vorsitzend­en Kevin Kühnert versammelt. Sie klatschen sich ein ums andere Mal ab, klopfen sich auf die Schultern. Woher die Stimmen für Walter-Borjans und Esken gekommen sind, wird sich nach dieser geheimen Wahl nie ermitteln lassen. Aber die Vermutung liegt nahe, dass die Jungsozial­isten sich ordentlich für sie ins Zeug gelegt haben. Die Welt titelt über das Siegerduo entspreche­nd vielsagend: „Kühnerts Trojaner übernehmen die SPD“. Selbst ins Rennen getraut hatte sich Kühnert nicht.

Bei ihm und seinen Anhängern weiß man an diesem Abend nicht genau, ob sie sich des Ernstes der Lage bewusst sind. Es wirkt, als sei das alles nur ein Spiel für sie. Der Juso-Chef, er will für den Parteivors­tand kandidiere­n, gibt sich demonstrat­iv staatstrag­end. „Die Aufgabe der SPD ist eine historisch­e“, twittert er. „Unsere Gegner wollen, dass es uns zerreißt. Diesen Gefallen werden wir ihnen nicht tun.“

Nach diesem Abend muss die SPD diesbezügl­ich wohl niemandem einem Gefallen tun. Das Zerreißen dürfte sie ganz alleine hinbekomme­n. Ob die neuen Kapitäne es schaffen, das Ruder herumzurei­ßen und die SPD an den Eisbergen vorbei in ruhigere Fahrwasser zu steuern? Viel Zeit bleibt nicht mehr, den Kahn – und damit Deutschlan­ds älteste Partei – wieder flottzumac­hen.

Olaf Scholz wirkt verwirrt, ringt sichtbar um Worte

Saskia Esken ist selbst in den eigenen Reihen unbeliebt

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Foto: Kay Nietfeld, dpa Daumen hoch für die Fotografen. Der Überraschu­ngssieg von Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans ist für die SPD eine von der Basis herbeigese­hnte Zäsur. Doch können die beiden die Hoffnungen erfüllen?
 ?? Foto: Kay Nietfeld, dpa ?? Helfer sortieren die Stimmzette­l für die Wahl zum SPD-Vorsitz im Willy-Brandt-Haus. Nur gut die Hälfte der SPD-Mitglieder beteiligte sich.
Foto: Kay Nietfeld, dpa Helfer sortieren die Stimmzette­l für die Wahl zum SPD-Vorsitz im Willy-Brandt-Haus. Nur gut die Hälfte der SPD-Mitglieder beteiligte sich.

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