Mittelschwaebische Nachrichten

Tiefe Blicke ins Herz der Musik

Nachruf Mariss Jansons wurde bewundert, tief respektier­t, geliebt. Nun starb der Dirigent in Sankt Petersburg. Als Chef des Symphonieo­rchesters des Bayerische­n Rundfunks wollte er noch den neuen Münchner Konzertsaa­l einweihen

- VON RÜDIGER HEINZE

Paris/Augsburg Ein Tagebuch ist eine private Sache. Hier sei eine Ausnahme gemacht:

„31. Oktober 2019, Paris. Philharmon­ie. Sehr gutes Konzert. Schostakow­itschs 10. gelang fulminant dank der Solisten – ob Mariss Jansons noch viele Impulse wirklich setzt am Abend, bezweifle ich. Er scheint doch sehr zerbrechli­ch. Jedenfalls strengte sich das Orchester an, es will sich internatio­nal beweisen. Der Abend lohnte sich.“

So steht es geschriebe­n – formuliert aus dem Nicht-wissen-können, was danach folgte: Nach dem 31. Oktober dirigierte Mariss Jansons noch ein Konzert in Köln und eines in New York – wobei er dort, wie die New York Classical Review berichtete, seine Arme zeitweise nur unter Schwierigk­eiten auf der Höhe der Partitur halten konnte. Für den zweiten New Yorker Abend wurde Jansons dann bereits durch Vasily Petrenko vertreten.

Nun ist aus Sankt Petersburg die erschütter­nde Nachricht eingetroff­en: Mariss Jansons ist tot.

Und der Bayerische Rundfunk, der ihm viel zu verdanken hat, erklärte in der Spitzenmel­dung der 12 UhrNachric­hten sachlich: „Er galt als einer der besten Dirigenten der Welt.“

Ja, so war es. Womöglich nahm Jansons, 1943 im Ghetto des lettischen Riga geboren, in seiner Altersklas­se sogar den Vorsitz ein. Er wurde ob seiner Fähigkeite­n bewundert, tief respektier­t, ja geliebt. Und – nun kommt das Entscheide­nde – nicht nur seitens des Publikums, sondern auch seitens der Musiker und der internatio­nalen Kritik. 16 Jahre lang wirkte Jansons als Chefdirige­nt vor dem Symphonieo­rchester des Bayerische­n Rundfunks – was wiederholt­e Vertragsve­rlängerung­en bedeutete –; 2023 hätte er gerne den neuen Münchner Konzertsaa­l für sein Orchester einweihen wollen, für den er aus eigener Tasche 250 000 Euro beisteuert­e – nämlich das Preisgeld der Ernstvon-Siemens-Auszeichnu­ng 2013 für sein Lebenswerk.

Das Lebenswerk, ja. Es ist riesig, schlägt sich nieder in preisgekrö­nten

CD-Einspielun­gen mit diversen großen Orchestern, dazu in ungezählte­n Aufnahmen, mit denen der Bayerische Rundfunk sein Programm auf höchstem ästhetisch­en Niveau bestreiten kann – und tagtäglich bestreitet –, schließlic­h auch in der Erinnerung daran, welche Intensität Jansons insbesonde­re im russischen Repertoire entfachen konnte. Wer 2016 seine Amsterdame­r Produktion von Tschaikows­kys „Pique Dame“hörte (Regie: Stefan Herheim) und im Jahr darauf Schostakow­itschs „Lady Macbeth“in Salzburg, der stieß jeweils auf musikalisc­he Tiefenbohr­ungen. Und dasselbe galt für Tschaikows­ky, für sämtliche Schostakow­itsch-Sinfonien, die Jansons mit unterschie­dlichen Orchestern aufnahm sowie für Gustav Mahler.

Worin aber lag das Wesen dieser Jansons schon frühkindli­cher Wille, Dirigent werden zu wollen, also dem Vater Arvid Jansons nachzufolg­en und als ausübender Musiker auch der singenden Mutter Iraida, sodann die Förderung durch Karajan, die Ausbildung in der legendären Wiener Dirigenten­schmiede von Hans Swarowsky und die Assistenz bei Jewgeni Mrawinski – dies alles führte zu jenem charakteri­stischen künstleris­chen Vermögen, das Mariss Jansons Auftritte nicht immer, aber vergleichs­weise oft zu Sternstund­en werden ließen. Sein Musizierid­eal bestand in der parallelen Beachtung von Gesanglich­keit, lesender Deutung des (Stimmungs-)Gehalts zwischen den Notenzeile­n und präziser Darlegung der konstituti­ven Kräfte von Musik, darunter zuvorderst Rhythmus, Harmonik. So kamen kostbare, nuancierte, mitunter geradezu detailvers­essene Aufführung­en zustande.

Jansons also verstand es, in das Herz der Musik zu leuchten. Deswegen wurde er bewundert, tief respektier­t, geliebt – und auf seiner letzten großen, für ihn abgebroche­nen Tournee dann vom Symphonieo­rchester des Bayerische­n Rundfunks regelrecht auf Händen getragen. Er hatte das Programm einstudier­t – übrigens auch Richard Straussens „Vier letzte Lieder“mit Diana Damrau, die in Jansons New Yorker Schwanenge­sang-Konzert gleichsam prophetisc­h erklangen –, und die Orchesterm­usiker brachten ihm liebend dar, was er wünschte – ohne dass es all seiner Impulse bedurft hätte.

Nun ist Mariss Jansons, der Workaholic, der sich nichts schenkTief­enbohrunge­n? te, der gegen seine Gesundheit dirigierte und schon 1996 einen Herzinfark­t am Pult erlitten hatte, tot. Es wird unmöglich sein in München, auf die Schnelle auch nur annähernd gleichwert­igen Ersatz für ihn zu finden: Sein letzter Vertrag wäre bis 2024 gelaufen. Stark begabte junge Dirigenten und Dirigentin­nen gibt es nicht wenige, aber Orchestere­rzieher, die die notwendige Orchester-Erfahrung durch internatio­nale Dirigate mitbringen (Berlin, Wien, Amsterdam, Pittsburgh) und geliebt werden, die sind ganz, ganz rar. Kirill Petrenko, Nelsons, Nézét-Seguin haben sich anderweiti­g festgelegt.

Mariss Jansons hat dirigieren müssen. Es war seine Bestimmung. Er wollte es so – bis zuletzt. Sein Einsatz hat ihm Freude gebracht – und uns Berührung.

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Foto: Herbert Neubauer, APA, afp Mariss Jansons (Riga 14. Januar 1943 – 30. November 2019, Sankt Petersburg)

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