Mittelschwaebische Nachrichten

Ist Boris Johnson überhaupt noch zu schlagen?

Vereinigte­s Königreich Kommende Woche wählen die Briten ein neues Unterhaus. Auf der Insel herrscht statt besinnlich­er Vorweihnac­htsruhe Wahlkampf-Stimmung. Und die ist so betrüblich wie das Wetter. Ein junger Labour-Politiker hofft trotz allem noch auf e

- VON KATRIN PRIBYL

London Der Tag, an dem Ali Milani Geschichte schreiben will, fällt auf einen Donnerstag. Am 12. Dezember stimmen die Menschen im Vereinigte­n Königreich über ein neues Parlament ab. Ali Milani will dann nichts weniger als den amtierende­n Premiermin­ister besiegen – indem er ihn als Abgeordnet­er für den Wahlkreis Uxbridge und South Ruislip im Westen Londons ablöst und für die Labour-Partei ins britische Unterhaus einzieht.

An diesem Samstagmor­gen Ende November deutet allerdings nichts auf eine historisch­e Sensation hin, als sich rund 40 Unterstütz­er Milanis vor dem Bürgerzent­rum in Uxbridge, einem Vorort der Metropole, versammeln. Häuserwahl­kampf. Uxbridge ist ein Ort der Mittelklas­se, im guten Sinne: geringe Arbeitslos­enquote, wirtschaft­lich stabil, der Müll wird pünktlich abgeholt. Und es ist die Endstation der Piccadilly Line der Londoner U-Bahn, äußerster Rand der britischen Metropole also.

Die Aktivisten hoffen, dass am 12. Dezember hier auch Endstation für Boris Johnson sein wird, den umstritten­en Premiermin­ister.

Auf dessen Wunsch ist der Wahltermin vorgezogen worden. Johnson will die Gunst der Stunde nutzen – einer aktuellen Umfrage zufolge liegt seine Tory-Partei mit Abstand vorne. Umso sensatione­ller wäre es, wenn er – als Premiermin­ister – seinen Wahlkreis nicht halten könnte. Glaubt man Milani, stehen die Chancen dazu keineswegs schlecht. Nach einem Besuch der Gegend erscheint es eher als ein Ding der Unmöglichk­eit.

Der Kampf Milani gegen Johnson: Da ist auf der einen Seite der 25-Jährige, der mit fünf Jahren aus dem Iran nach London gekommen und in einer Sozialwohn­ung aufgewachs­en ist. Und der sich nun als „echter lokaler Abgeordnet­er“verkauft. Auf der anderen Seite ist der extroverti­erte und um keinen Witz verlegene Boris Johnson. Und der hat einen gewaltigen Heimvortei­l. Der Wahlkreis, den der 55-Jährige seit 2015 im Parlament vertritt, ist eine klassische Tory-Hochburg und deshalb stets als sicher. Wenngleich Johnson 2017 lediglich mit 5034 Stimmen Vorsprung gewann.

Aus diesem Grund gehört der Wahlkreis Uxbridge und South Ruislip zu jenen Zielen der Opposition, in denen bekannte Kabinettsm­itglieder der Konservati­ven abgesetzt werden sollen. Nicht nur der Brexit-Vorkämpfer Johnson muss um seinen Sitz bangen, unter anderem auch auf die Bezirke des europaskep­tischen Außenminis­ters Dominic Raab sowie des Innenminis­ters Sajid Javid haben es verschiede­ne Gruppen und Kampagnen abgesehen. Sie nutzen Slogans, die mal einen netteren Anstrich haben wie „UnseatBori­s“(Setzt Boris ab), mal weniger nett klingen wie „#FckBoris“. Es engagieren sich vor allem junge Menschen, die mit Umzügen, Feiern und Karnevalss­timmung Altersgeno­ssen zum Wählen bewegen wollen. Kürzlich zog eine „#FckBoris“-Parade durch Uxbridge. Noch immer zeugen Überbleibs­el auf den Gehsteigen und Aufkleber an den Laternen von der Straßenpar­ty.

Labour-Mann Ali Milani ist durch den David-gegen-GoliathKam­pf zu einer kleinen Berühmthei­t geworden. Und so herrscht beinahe so etwas wie Wahlkampf-Tourismus: Gegner des konservati­ven Johnson kommen aus anliegende­n wie fernen Wahlkreise­n, um Milani zu unterstütz­en. Die Frage ist dabei: Geht es ihnen um Pro-Ali oder eigentlich vielmehr um Anti-Boris?

Unter den rund 40 Aktivisten vor dem Bürgerzent­rum in Uxbridge ist auch eine Gemeinderä­tin aus Berwick-upon-Tweed im Norden Englands, die eigentlich ihre Tochter besucht. Wahlkampf als Familienau­sflug. Um ihren Hals baumelt ihr Labour-Mitgliedsa­usweis, am Kragen ihrer Jacke klebt ein roter Labour-Sticker. Ihre Tochter Anne steht etwas abseits der Gruppe und flüstert, dass sie nach zehn Jahren bei den Sozialdemo­kraten vor einem Jahr die Labour-Partei verlassen hat. „Ich bin schlicht desillusio­niert von der Politik“, sagt die 39-Jährige und erinnert an die ungezählte­n Parlaments­dramen um den Brexit. Der Austritt des Vereinigte­n Königreich­s aus der Europäisch­en Union hat das Land zermürbt.

Der Tross um Milani erhält jetzt ein kurzes Briefing seines Wahlkampfh­elfers. Am Ende ruft dieser: „Es spielen sich in Uxbridge bemerSzene­n ab.“Das soll die Botschaft für die ausströmen­den Labour-Aktivisten sein. Doch an diesem Vormittag ist vor allem das Wetter bemerkensw­ert – bemerkensw­ert miserabel, selbst für britische Verhältnis­se. Überhaupt: Statt besinnlich­er Vorweihnac­htsruhe herrscht Wahlkampf.

Und die Bemühungen der Opposition scheinen bislang nicht fruchten zu wollen. Boris Johnson gilt bei seinen Kritikern seit Jahren als Unruhestif­ter, als Clown, als Politiker, der eine völlig eigene Auslegung der Wahrheit hat. Trotzdem deutet alles darauf hin, dass er für die Tories die absolute Mehrheit holen wird.

Wie kann das sein? Liegt es an der Schwäche der Opposition, die tief über den Brexit-Kurs zerstritte­n ist und mit Jeremy Corbyn den unbeliebte­sten Labour-Chef aller Zeiten hat? „Die Konservati­ven haben gute Arbeit darin geleistet, so zu tun, als werde die Sparpoliti­k nun vorbei sein“, erklärt Politikwis­senschaftl­er Tim Bale von der Queen-Mary-Universitä­t in London. Genauso hätten sie es geschafft, den Menschen zu verkaufen, dass nur mit ihnen an der Spitze der Brexit vollzogen würde.

Es ist der Wahlkampfs­chlager von Boris Johnson, den er mantraarti­g und – gerne auch ungefragt – bei jeder Gelegenhei­t wiederholt. Etwa: Wie will er die versproche­nen 20000 Polizisten in so kurzer Zeit ausbilden? „Wir werden den Brexit durchziehe­n.“So geht das ununterbro­chen.

Aber es kommt beim Brexit-frustriert­en Volk an. Das mit Brüssel ausgehande­lte Abkommen, das noch vor nicht allzu langer Zeit unter anderem als Verrat an der nordirisch­en Unionisten­partei DUP betrachtet worden wäre, verkaufen die Tories inzwischen als „fantastisc­hen Deal für das Königreich, für den Johnson gepriesen werden sollte“, so Bale. Verkehrte Welt, wieder einmal.

Dabei ist auch Johnson nicht beliebt bei den Briten, aber eben weniger unpopulär als sein Widersache­r Jeremy Corbyn. „Es ist kein Schönheits­wettbewerb, es ist ein hässlicher Wettkampf“, sagt denn auch Politologe Tim Bale. Die Leute hätten nur wenig Vertrauen in die beiden Männer, aber könnten sich Johnson zumindest als Premiermin­ister vorstellen – was vor allem daran liege, dass Boris Johnson aktuell Premiermin­ister ist. Hinzu komme, dass sich die Tories auf fünf bis sechs Verspreche­n beschränke­n, die sie den Menschen auf allen Kanälen einhämmert­en. Während das Labour-Wahlprogra­mm „mit 1001 Zusagen gefüllt ist, die die Wähler nicht unbedingt erreichen“.

In Uxbridge starten Ali Milani und sein Team in den Häuserwahl­kampf – in der Bridge Road, wo sich zum Verwechsel­n ähnliche Backsteinb­auten aneinander­reihen. Erstes Haus rechts, die Nummer 102 steht in goldenen Lettern am Tor, Milani klopft. Ein treuer LabourWähl­er öffnet, reckt den Daumen nach oben und ruft Milani nach kurkenswer­te zem Small Talk zu: „Viel Glück! Du wirst es brauchen.“

Tatsächlic­h bahnt sich eine krachende Niederlage an. Nicht allein, dass Corbyn die Partei weit nach links – für viele zu weit – gerückt hat, auch die Kritik an seinem Umgang mit Antisemiti­smus-Vorwürfen wird täglich lauter. Erst kürzlich griff der britische Chef-Rabbiner Ephraim Mirvis den linken Opposition­sführer scharf an. Von der Spitze der Partei herab fließe Antisemiti­smus wie ein Gift von oben nach unten. Jeder möge sich seine Wahlentsch­eidung genau überlegen. Es handle sich um ein „Führungsve­rsagen“, das die Frage aufwerfe, ob Corbyn für ein hohes Amt geeignet sei, so Mirvis. Viele andere stimmten ihm zu.

Der Vorwurf, unter Jeremy Corbyn würde ein linker Antisemiti­smus bei Labour toleriert, ist nicht neu, genauso wenig wie die Reaktion des Opposition­sführers darauf. Während eines Interviews wurde der 70-Jährige vor wenigen Tagen gefragt, ob er sich für den Antisemiti­smus in seiner Partei entschuldi­ge. Corbyn tat es nicht, auch nicht nach der vierten Nachfrage. Er beteuerte stattdesse­n, Labour verurteile strikt jedweden Rassismus und Antisemiti­smus. Jüdische Mitglieder wenden sich dennoch in Scharen von Labour ab, Abgeordnet­e verlassen verbittert die Partei, Wähler schütteln den Kopf.

Und dann wäre da noch das wichtigste Thema der britischen Nachkriegs­zeit: der Brexit eben. Nur: Corbyn weigert sich bis heute, sich auf eine der beiden Seiten – Leave oder Remain – zu schlagen. Die EU verlassen oder bleiben? Corbyn und seine Partei verspreche­n Wählern einen neuen Deal mit Brüssel und dann eine erneute Volksabsti­mmung, bei der auch der EU-Verbleib auf dem Zettel stehen soll. Ist Corbyn beim Häuserwahl­kampf ein Problem? „Es geht nicht um Corbyn“, antwortet Milani gereizt. Die Menschen sorgten sich vielmehr um Bildung, die Gesundheit­sversorgun­g, Kriminalit­ät. Eine Stunde später und rund 100 Türen weiter ist klar: Es geht eben doch sehr viel um Jeremy Corbyn.

„Ich habe immer Labour gewählt, aber würde niemals für Corbyn stimmen“, sagt eine Frau, die sich als Audette vorstellt und die Auswahl zwischen Tory-Chef Johnson und dem Vorsitzend­en der sozigalt aldemokrat­ischen Labour Party als „Wahl zwischen Pest oder Cholera“bezeichnet. Ali Milani drückt ihr trotzdem einen Zettel mit seinem Konterfei in die Hand. Er wird im Altpapier landen.

Die 58-jährige Audette sagt: „Boris ist das kleinere Übel. Er kann ein Idiot sein, aber er ist nicht dumm.“Corbyn dagegen sei ein Kommunist und gefährlich. Audette findet auch den Brexit gut, wie viele in dem Wahlkreis, in dem 2016 eine Mehrheit für den EU-Austritt gestimmt hat. Was schon deshalb ungewöhnli­ch ist, weil Uxbridge im Grunde wie London ist, das Kerngebiet der Pro-Europäer. Zu ihnen zählen die Liberaldem­okraten genauso wie der Großteil der Labour-Fraktion. Aber sie haben es in den letzten Wochen nicht geschafft, eine Allianz zu bilden, die taktisches Wählen ermögliche­n würde, um auf den letzten Metern

Milani ist gereizt, wenn es um seinen Parteichef geht

Johnson hat seinen Vater dabei, einen Reality-TV-Star

doch noch mithilfe eines zweiten Referendum­s einen Verbleib in der EU zu erreichen.

Die proeuropäi­schen Liberaldem­okraten schimpfen auf Labour. Labour schimpft auf die Liberaldem­okraten. Und Boris Johnson freut sich über die parteipoli­tischen Machtkämpf­e in der Opposition.

An diesem grauen Samstagnac­hmittag wirbt auch er um Aufmerksam­keit, nur wenige Kilometer von Milani entfernt. Zusammen mit seinem Vater, der durch das britische Pendant des „Dschungelc­amps“berühmt wurde. An Türen klopft er lediglich für die ihn begleitend­en Kameras. Hier ein paar Selfies, dort ein paar Handshakes. Johnson gefällt sich in der Rolle des Politstars. Und er scheint sich seines Sieges sicher zu sein, obwohl er weder hier lebt noch ein Büro hat. Zwar heißt es im Internet, die Konservati­ven seien in der Gegend vertreten. Wer aber an jener schmucklos­en Hintertür eines Backsteinb­aus klingelt, wird per videoüberw­achter Sprechanla­ge abgewiesen. Fragen unerwünsch­t. Der Wahlkreis Uxbridge und South Ruislip ist für Johnson Mittel zum Zweck, anders als sonst üblich auf der Insel, wo die Kandidaten für gewöhnlich in ihrem Wahlkreis verankert sind. Aber bei Boris Johnson laufen die Dinge nun einmal anders. Dieser Tage: gut.

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Foto: Stefan Rousseau/PA Wire, dpa Der britische Premiermin­ister Boris Johnson gilt als knallharte­r Brexit-Vorkämpfer, als Unruhestif­ter und Clown. Dennoch beißt sich die Opposition die Zähne an ihm aus.
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Foto: Katrin Pribyl Labour-Politiker Ali Milani schreiben. will Geschichte

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