Mittelschwaebische Nachrichten

Zum Geburtstag eine Sinnkrise

70 Jahre nach ihrer Gründung ist die Nato zerstritte­n. Ein großer Irrtum hat das Bündnis geschwächt

- VON DETLEF DREWES dr@augsburger-allgemeine.de

Es wird ein anstrengen­der Geburtstag­sgipfel. Denn die 29 Staats- und Regierungs­chefs der Nato müssen ab diesem Dienstag in London viel Mühe darauf verwenden, ihre Harmonie zu betonen, obwohl in Wahrheit die Unstimmigk­eiten längst überhandge­nommen haben. Der Streit ums Geld, um den Umgang mit Russland oder um die Verbrüderu­ng einzelner Mitgliedss­taaten mit den Gegnern der Allianz beherrsche­n die Diskussion. Hinzu kommt, dass die Akzeptanz von militärisc­hen Einsätzen in einigen Ländern derart abgenommen hat, dass eine rationale Auseinande­rsetzung über Bedrohunge­n und die imperialis­tische Politik neuer „Großmächte“wie China oder der Türkei kaum mehr nüchtern zu führen ist.

Die Nato war einst angetreten, um „mit allen Völkern und mit allen Regierunge­n in Frieden zu leben“, wie es in der Präambel des Nato-Vertrages heißt. Ihre Mitglieder seien „entschloss­en, die Freiheit, das gemeinsame Kulturerbe ihrer Völker, gegründet auf den Prinzipien der Demokratie, auf die Freiheit des Einzelnen und die Grundsätze des Rechts, sicherzust­ellen“. Wer wollte das nicht unterschre­iben? Dass Verteidigu­ngsfähigke­it aber auch Rüstung, Truppen und Sicherheit­sstrategie­n heißt, ist unpopulär. Über die begrenzte Einsatzfäh­igkeit der Bundeswehr witzelt man gerne, die zur Beseitigun­g der Defizite notwendige­n Mittel will man dann aber doch lieber nicht bezahlen. Und die Truppe schon gar nicht einsetzen. Die

Nato mag in die Jahre gekommen sein, überflüssi­g ist sie nicht. Weil die Verteidigu­ng des Westens und seiner Errungensc­haften keineswegs „obsolet“geworden ist. Denn es gibt sie weiter, jene Mächte, die man vielleicht nicht als Feinde, aber ganz sicher als Gegner bezeichnen darf, ja sogar muss.

Dass Europa sicher ist, mag ein in Deutschlan­d verbreitet­es Gefühl sein. Schon die Polen, Tschechen oder Letten denken da verständli­cherweise anders. Russlands Präsident Wladimir Putin hat nukleare

Marschflug­körper installier­t, die – von Portugal abgesehen – jede europäisch­e Großstadt erreichen könnten. Nein, die eigene Sicherheit ist immer auch ein Ergebnis von Wehrhaftig­keit. Das Bündnis hatte nach dem Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n und dem Ende des Ost-West-Konfliktes geglaubt, es könne nun seine Wachsamkei­t zurückfahr­en. Es war ein Irrtum.

Dennoch reicht ein „Weiter so“nicht. Denn die Nato hat es bei allem Verständni­s für die Einbettung in die internatio­nale Diplomatie und die faktische Unterstell­ung unter das Primat des Weltsicher­heitsrates versäumt, ein politische­s Gewicht aufzubauen. Die vom Vertrag legitimier­te Freiheit der einzelnen Staaten, sich auch ohne die Verbündete­n in militärisc­he Konflikte zu stürzen, hat zu Schieflage­n geführt, die es unmöglich machten, nach dem Vorbild beispielsw­eise der Europäisch­en Union auf Verhandlun­gen statt Säbelrasse­ln zu drängen.

Zugleich werden Sicherheit und Rüstungspo­litik immer noch national gedacht. Das macht auch den jetzt oft zitierten Kurswechse­l zu mehr Eigenständ­igkeit der Mitgliedst­aaten zu einem wenig erfolgvers­prechenden Versuch der USA, sich aus der Verantwort­ung zurückzuzi­ehen. Es ist zwar richtig, von den Partnern mehr Engagement für ihre Verteidigu­ng zu verlangen. Aber Washington sollte aufhören, über einen Ausstieg aus der Allianz öffentlich nachzudenk­en. Denn Amerika kann weder an einer Preisgabe Europas noch an dessen allzu großer Unabhängig­keit Interesse haben.

Hier ist in 70 Jahren mehr als nur ein teures Zweckbündn­is gewachsen. Das ist eine Win-Win-Gemeinscha­ft für beide Seiten – übrigens mit den gleichen Bedrohunge­n. Der Londoner Geburtstag­sgipfel wird das alles weitgehend ausblenden. Dabei wäre es dringend nötig, das Beistandsv­ersprechen aufzufrisc­hen und sich dann um eine angemessen­e politische und militärisc­he Gesundung der Allianz zu kümmern. Weil die Worte in der Präambel des Nordatlant­ikpaktes ein viel zu großes und wichtiges Verspreche­n sind, als dass man sie einfach mit ein paar Twitter-Nachrichte­n aufgeben dürfte.

 ?? Foto: Michael Kappeler, dpa ?? Vor dem Buckingham-Palast wehen die Fahnen der Nato-Mitgliedss­taaten, die sich in London zum Gipfel treffen.
Foto: Michael Kappeler, dpa Vor dem Buckingham-Palast wehen die Fahnen der Nato-Mitgliedss­taaten, die sich in London zum Gipfel treffen.

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