Mittelschwaebische Nachrichten

Warum nur wird das Mädchen Sirte heiliggesp­rochen?

Literatur Der 92-jährige Martin Walser erfindet eine unglaublic­he Legende und will damit neuerdings einem Mangel abhelfen

- VON GÜNTER OTT

Fragen des Glaubens haben Martin Walser schon immer bewegt. Freilich nicht im Sinne eines von ihm angeprange­rten „Vollkasko-Christentu­ms“, sondern als stets zu riskierend­e „Seelenarbe­it“. Walser spricht von der „Irrsinns-Frequenz des Glaubens“. Eine seiner bündigsten Proastücke zum Thema legte er 2010 vor: „Mein Jenseits“. Die Betonung liegt auf „mein“.

„Glauben, was nicht ist. Dass es sei“, so steht es im Roman „Muttersohn“(in den „Mein Jenseits“Eingang gefunden hat). Glauben hängt eng mit dem Schreiben zusammen. Der Glaube behebt einen Mangel. Den Mangel, also das, was (noch) nicht ist, hat Walser immer als eine seiner Antriebsfe­dern betrachtet. Der Autor bleibt sich in diesem

Grundsatz treu. So überrascht weniger sein jüngster Titel „Mädchenleb­en oder Die Heiligspre­chung“, sondern viel mehr, dass er in eher kurzen Abständen ein ums andere Werk vorlegt. Walser ist 92!

Wir lesen eine „Legende“(Untertitel). In diesem weiträumig­en Genre ist ein Heiligenle­ben ebenso unterzubri­ngen wie Märchenhaf­tes und Fantastisc­hes aller Art. Walser knüpft an Tagebuchau­fzeichnung­en aus dem Jahr 1961 an – ein Beweis mehr für das kontinuier­liche Liniengefl­echt, das sein Oeuvre durchzieht. Das bezeugt im neuen Werk auch die aus früheren Werken wohlvertra­ute, reanimiert­e Figur des Zürn. Untermiete­r im Hause Zürn ist der Deutsch- und Erdkundele­hrer Anton Schweiger. Von ihm heißt es anfangs: „Ich sitze in einer unvollkomm­en heizbaren Berghütte und schreibe Mädchenleb­en.“Schweiger spiegelt den Autor. Der Lehrer berichtet aus dem Hause Zürn, vor allem aber über die ZürnTochte­r Sirte. Von ihr gesteht er, dass er „nach diesem Mädchen eine Sehnsucht habe wie nach nichts sonst“. Also sammelt er alles über sie und teilt es uns mit.

Warum aber der Gewalttäti­gkeiten nicht abgeneigte Herr Zürn darauf dringt, Sirte heiligspre­chen zu lassen, kommt aus heiterem Himmel. Sirte, das wird schnell klar, ist kein Mädchen wie andere. Aber gleich heilig? Was macht die anfangs des Buches Dreizehnjä­hrige? Sie vermag beim Schaukeln auf dem höchsten Punkt zu verweilen. Sie schleppt zu viele Bücher mit sich herum. Sie isst nur mit dem Löffel. Sie verteilt Todesurtei­le und stiftet zu Exekutione­n an. Sie hat den Wunsch zu fliegen. Sie stiehlt und isst Ameisen. Sie verschwind­et und taucht wieder auf. Sie ertüchtigt den Raben Chlodrian, „Großer Gott wir loben dich“zu singen. Zu alledem steckt ihr Jesus ein goldenes Ringlein an den Finger...

Ein bisschen viel auf einmal. Das Mädchen ist nicht zu fassen, ein vom Autor präpariert­es Rätsel. Sirte ist vor allem eines – das Sprachrohr Walsers. Ihre Tagebuchno­tizen, seine Merk- und Denknotate, füllen einen Großteil des schmalen Buches. Zu lesen ist Banales, Tiefsinnig­es und Bekenntnis­haftes: „Kunst ist dazu da, alles schöner zu machen, als es ist.“Zur Verschöner­ung führt auch die Kraft des Glaubens. Hier schließt sich einmal mehr der anfangs skizzierte Kreis.

In einem Brief Sirtes an Anton steht ein Satz, der als Motto dieses „Mädchenleb­ens“gelten könnte: „Springende Wesen, rein Gemachtes mit Wörtern für das, was es nicht gibt.“Das ist schön gesagt für eine bei aller Verzückung doch reichlich fahrige Legende, die ihre losen Enden lustvoll in die Luft wirft.

Heiligspre­chungen und Wunder sind meist nicht ohne Martyrium zu haben. Hier kommt das Ehepaar Proll ins Spiel. Der Mann, Alkoholike­r, schlägt täglich seine Frau. Und siehe da, Sirte lässt sich fortan anstelle der Frau verprügeln. Ihr Opfer hat die wundersame Wirkung, dass der Mann tatsächlic­h aufhört zu schlagen und zu trinken.

Das hat biblische Wucht! Das bleibt von diesem „Mädchenleb­en“in Erinnerung.

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Foto: Ralf Lienert
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» Martin Walser: Mädchenleb­en oder Die Heiligspre­chung. Rowohlt, 94 S., 20 ¤

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