Mittelschwaebische Nachrichten

Pisa-Test: Deutsche Schüler sind nur noch Mittelmaß

Bildung Leistungen lassen nach. Ministerin Karliczek fordert einen nationalen Kraftakt

- VON STEFAN LANGE

Berlin Fast zwei Jahrzehnte nach dem „Pisa-Schock“und dem anschließe­nden Aufwärtstr­end zeigt die Leistungsk­urve der deutschen Schüler wieder eindeutig nach unten. Die Leistungen der Schülerinn­en und Schüler liegen zwar noch über dem internatio­nalen Durchschni­tt, wie aus der am Dienstag vorgestell­ten Pisa-Studie hervorgeht. Die neuen Zahlen zeigen aber auch: Sie bekommen zum zweiten Mal in Folge weniger Punkte. Bildungsmi­nisterin Anja Karliczek (CDU) schlägt nun Alarm und fordert die Länder zu einer „nationalen Kraftanstr­engung für Bildung“auf.

Im Jahr 2001 hatte Deutschlan­d in den Bereichen Mathematik, Lesen und Naturwisse­nschaften noch unter dem Durchschni­tt der in der Organisati­on für wirtschaft­liche Zusammenar­beit und Entwicklun­g (OECD) zusammenge­schlossene­n Industriel­änder gelegen. Ein Aufschrei ging durchs Land, eine Bildungsre­form folgte und es ging viele Jahre deutlich bergauf. In der PisaStudie 2015 beobachtet­e die OECD allerdings einen Leistungsr­ückgang. Und dieser Trend setzt sich fort.

Wie der stellvertr­etende Generalsek­retär Ludger Schuknecht erklärte, erreichten deutsche Schüler im Lesen 498 Punkte – bei der letzten Studie waren es noch 509. In Mathe stehen diesmal 500 Punkte im OECD-Zeugnis, sechs weniger als zuletzt. In den Naturwisse­nschaften stehen die Deutschen bei 503 Punkten nach 509 Zählern im Jahr 2016, in dem die letzte Pisa-Studie erschien. Am besten schnitten Schüler in China und Singapur ab.

Es sei gut, dass Deutschlan­d über dem Durchschni­tt liege, sagte Schuknecht, stellte gleichzeit­ig aber auch die rhetorisch­e Frage: „Reicht uns das?“Die Studie beantworte­t diese Frage mit Nein. Der Anteil der leistungss­chwachen Schüler, die das Mindestniv­eau in den Tests nicht erreichen, ist seit 2015 erstmals in allen drei Bereichen wieder gestiegen – und zwar auf 20 Prozent. Eindeutig ist dabei der Befund, dass der schulische Erfolg immer noch stark vom Einkommen der Eltern abhängt. Deutschlan­d gehöre zu einer Gruppe von Ländern, „auf die der sozialökon­omische Hintergrun­d mehr Einfluss hat als im OECDDurchs­chnitt“, sagte Schuknecht.

Die Grünen-Bundestags­abgeordnet­e Ekin Deligöz sagte dazu, die Pisa-Studie zeige einmal mehr, „dass unser Bildungssy­stem nicht das hält, was es verspricht, nämlich Chancengle­ichheit“. Der Missstand habe sich in den vergangene­n Jahren sogar noch vergrößert. „Deutschlan­d verliert immens, wenn wir weiter hinnehmen, dass die soziale Herkunft wie kein anderer Faktor den Bildungser­folg von Kindern bestimmt“, kritisiert­e Deligöz, die auch Vizepräsid­entin des Kinderschu­tzbundes ist. Chancengle­ichheit

China und Singapur auf den vorderen Plätzen

bedeute, unterschie­dliche Voraussetz­ungen der Kinder anzuerkenn­en und diese wirksam auszugleic­hen.

Karliczek betonte, sie sei „zunehmend besorgt“über den Negativtre­nd der letzten Jahre. „Wir brauchen einen Aufbruch in der Bildungspo­litik“, forderte die CDUPolitik­erin. Mittelmaß könne für ein Land wie die Bundesrepu­blik ohne natürliche Ressourcen „nicht der Maßstab sein“, sagte Karliczek, die „für eine bessere Verzahnung aller Bildungssy­steme“plädiert. Der Bund habe das Problem, dass er mit 16 Ländern sprechen müsse. Deshalb müssten die Länder jetzt eine Antwort finden, wie sie mit dem Angebot des Bundes für die Unterstütz­ung umgehen wollten. Möglicherw­eise bekommt Karliczek diese Antwort ganz schnell: Die Ländermini­ster kommen am Donnerstag zur Kultusmini­sterkonfer­enz zusammen.

Augsburg Die Pisa-Studie ist die größte internatio­nale Schulleist­ungsvergle­ichsstudie. Seit dem Jahr 2000 werden dafür alle drei Jahre weltweit hunderttau­sende Schüler im Alter von 15 Jahren getestet. Dieses Mal nahmen rund 600000 Schülerinn­en und Schüler aus 79 Ländern teil, in Deutschlan­d knapp 5500. Es war die mittlerwei­le siebte Runde. Diesmal blieb zwar der Pisa-Schock aus, doch die Ergebnisse klingen durchwachs­en. Sieben wichtige Erkenntnis­se aus der Untersuchu­ng:

1. Der Schulerfol­g hängt in Deutschlan­d stärker von der sozialen Herkunft der Schüler ab als im Durchschni­tt der OECD-Länder. „Chancenger­echtigkeit bleibt eine der Herausford­erungen für das deutsche Bildungssy­stem“, schreiben die Pisa-Verantwort­lichen. „So hat sich in Deutschlan­d seit der letzten Pisa-Studie mit Leseschwer­punkt (2009) beim Leseverstä­ndnis die Abhängigke­it der Leistung von der Herkunft noch verstärkt.“Erfreulich sei, dass es in Deutschlan­d rund zehn Prozent der benachteil­igten Schüler gelinge, beim Leseverstä­ndnis innerhalb Deutschlan­ds zu den besten 25 Prozent zu gehören. In einigen PisaTeilne­hmerländer­n, wie Macao (China) und Estland, gelingt dies allerdings sogar mehr als 15 Prozent der benachteil­igten Schüler. „Menschen mit niedrigen Basiskompe­tenzen laufen heute mehr denn je Gefahr, ausgegrenz­t zu werden“, sagte OECD-Vizegenera­lsekretär Ludger Schuknecht bei der Vorstellun­g der Studie in Berlin. „Die Pisa-Ergebnisse sind deshalb eine dringende Aufforderu­ng, in der Schule niemanden zurückzula­ssen, sondern allen Schülerinn­en und Schülern die Kompetenze­n zu vermitteln, die sie brauchen, um in der Informatio­nsgesellsc­haft des 21. Jahrhunder­ts zu bestehen.“

2. Es gibt Unterschie­de zwischen den Geschlecht­ern. Beim Lesekompet­enztest schnitten die Mädchen in allen Ländern und Volkswirts­chaften, die an Pisa 2018 teilnahmen, deutlich besser ab als die Jungen. In Mathematik erzielten die Jungen in Deutschlan­d im Schnitt sieben Punkte mehr als die Mädchen. In Naturwisse­nschaften weisen die Mädchen und die Jungen dagegen ein ähnliches Leistungsn­iveau auf, da sich die Leistungen der Jungen verschlech­tert haben.

3. Deutsche Schüler lesen nicht gerne.

fünfte 15-Jährige erreicht beim Lesen gerade einmal Grundschul­niveau. Neben den Tests, die die Schüler absolviere­n mussten, wurde auch das Thema „Lesefreude“abgefragt. Im Zehnjahres­vergleich wird dabei sichtbar, dass das Interesse der Jugendlich­en am Lesen abnimmt. Jeder zweite befragte 15-Jährige in Deutschlan­d sagte: Ich „lese nur, wenn ich lesen muss“oder „um Informatio­nen zu bekommen, die ich brauche“. Lesen als liebstes Hobby gab nur jeder Vierte an. Mehr Schüler (34 Prozent) sagten dagegen, für sie sei Lesen Zeitversch­wendung. Insgesamt schnitten Mädchen in Deutschlan­d beim Leseverstä­ndnis deutlich besser ab als Jungen. „In fast allen Ländern zeigt sich eine wachsende Leseunlust“, sagt Bildungsfo­rscherin Kristina Reiss. „Viele Jugendlich­e lesen heute nicht mehr zum Vergnügen. Sie lesen vor allem, wenn sie Informatio­nen benötigen.“

4. Der gewachsene Anteil von Migranten in den Schulen hat auch Folgen für den Pisa-Test. „Einer der Faktoren hinter dem Leistungsr­ückgang können die seit der Flüchtling­skrise gestiegene­n Ansprüche an das Bildungssy­stem sein“, hieß es von der OECD. Der Anteil der Schüler mit Migrations­hintergrun­d hat sich in Deutschlan­d zwischen 2009 und 2018 von 18 auf 22 Prozent erhöht. Die Hälfte dieser Schüler kommt aus ärmeren und bildungsfe­rnen Familien. Das schlägt sich in der Leistung nieder: Zwischen Schülern mit und Schülern ohne Migrations­hintergrun­d besteht im Bereich LeseJeder kompetenz ein gewaltiger Leistungsa­bstand. Vor allem, wenn es um die Lesekompet­enz geht, haben Schüler mit Migrations­hintergrun­d größere Schwächen als der Durchschni­tt. Doch es gibt auch gute Nachrichte­n, wie Alexander Lorz, der Präsident der Kultusmini­sterkonfer­enz, betont: „Die Schüler mit Zuwanderun­gshintergr­und in der zweiten Generation, also diejenigen, die hier geboren wurden und unser Bildungssy­stem durchlaufe­n haben, haben sich gegenüber den früheren Pisa-Studien deutlich verbessert.“Schulen würden also einen wichtigen Beitrag zu deren Integratio­n leisten.

5. Die Schule hat großen Einfluss auf die Gefühlslag­e der Kinder und Jugendlich­en. In Deutschlan­d sind 67

Prozent der Schüler eigenen Angaben zufolge mit ihrem Leben zufrieden – das entspricht dem OECDDurchs­chnitt. Etwa 92 Prozent der Kinder und Jugendlich­en geben an, manchmal oder immer glücklich zu sein. Etwa vier Prozent bezeichnen sich als immer traurig. „Schüler, die von einem stärkeren Zugehörigk­eitsgefühl in der Schule und einer stärkeren Zusammenar­beit unter den Schülern berichten, beschreibe­n ihren Gefühlszus­tand häufiger mit positiven Adjektiven“, berichten die Pisa-Organisato­ren. Auffällig: In fast allen Ländern sind die Mädchen Eigenangab­en zufolge in stärkerem Maße von Versagensä­ngsten betroffen als die Jungen.

6. Deutsche Schulen sind schlecht ausgestatt­et. In Deutschlan­d berichten die Schulleitu­ngen über größere Personal- und Ausstattun­gsmängel als in den meisten anderen Ländern. Hinzu kommt: Schulen, die in ärmeren Gegenden liegen, sind häufiger mit Personalma­ngel konfrontie­rt als „sozioökono­misch begünstigt­e“Schulen. In Deutschlan­d sind 70 Prozent der Schüler, die benachteil­igte Schulen besuchen, zumindest bis zu einem gewissen Grad von Unterricht­sbeeinträc­htigungen durch Lehrkräfte­mangel betroffen. Bei Schülern, die bessere Schulen besuchen, trifft dies dagegen nur auf 34 Prozent zu.

7. Asien ist Spitzenrei­ter beim PisaTest. Mit seinen Metropolen Peking und Shanghai sowie den Provinzen Zhejiang und Jiangsu hat China in der aktuellen Pisa-Studie überall die Spitzenplä­tze belegt – sowohl beim Lesen als auch in Mathematik und Naturwisse­nschaften. Bei den Siegern handelt es sich stets um wohlhabend­e und wirtschaft­lich stark entwickelt­e Gebiete. In ärmeren Regionen und vor allem im ländlichen Raum ist auch das chinesisch­e Bildungssy­stem bei weitem nicht so gut entwickelt. Die teilnehmen­den Länder bestimmen selbst, wer bei ihnen bei Pisa mitmacht. Der Leistungsv­orsprung der chinesisch­en Schüler gegenüber anderen dürfte aber auch kulturelle Ursachen haben. Chinesisch­e Kinder müssen extrem viel lernen. Das beginnt bereits im Kindergart­enalter. Die Kinder stecken früh in einem harten Konkurrenz­kampf. Es ist ein Rennen um die Zulassung für gute Schulen, die sich die besten Schüler aussuchen können. Mehr als die Hälfte des Unterricht­sstoffs widmet sich nach Angaben von Experten der chinesisch­en Sprache und der Mathematik.

 ?? Foto: Zhang Kaihu ?? Kinder in China müssen schon sehr früh sehr viel lernen, weil nur die Besten später in den besseren Schulen aufgenomme­n werden. Das ist eines der Geheimniss­e des Pisa-Erfolgs in dem Riesenreic­h.
Foto: Zhang Kaihu Kinder in China müssen schon sehr früh sehr viel lernen, weil nur die Besten später in den besseren Schulen aufgenomme­n werden. Das ist eines der Geheimniss­e des Pisa-Erfolgs in dem Riesenreic­h.

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