Mittelschwaebische Nachrichten
Pisa-Test: Deutsche Schüler sind nur noch Mittelmaß
Bildung Leistungen lassen nach. Ministerin Karliczek fordert einen nationalen Kraftakt
Berlin Fast zwei Jahrzehnte nach dem „Pisa-Schock“und dem anschließenden Aufwärtstrend zeigt die Leistungskurve der deutschen Schüler wieder eindeutig nach unten. Die Leistungen der Schülerinnen und Schüler liegen zwar noch über dem internationalen Durchschnitt, wie aus der am Dienstag vorgestellten Pisa-Studie hervorgeht. Die neuen Zahlen zeigen aber auch: Sie bekommen zum zweiten Mal in Folge weniger Punkte. Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) schlägt nun Alarm und fordert die Länder zu einer „nationalen Kraftanstrengung für Bildung“auf.
Im Jahr 2001 hatte Deutschland in den Bereichen Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften noch unter dem Durchschnitt der in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zusammengeschlossenen Industrieländer gelegen. Ein Aufschrei ging durchs Land, eine Bildungsreform folgte und es ging viele Jahre deutlich bergauf. In der PisaStudie 2015 beobachtete die OECD allerdings einen Leistungsrückgang. Und dieser Trend setzt sich fort.
Wie der stellvertretende Generalsekretär Ludger Schuknecht erklärte, erreichten deutsche Schüler im Lesen 498 Punkte – bei der letzten Studie waren es noch 509. In Mathe stehen diesmal 500 Punkte im OECD-Zeugnis, sechs weniger als zuletzt. In den Naturwissenschaften stehen die Deutschen bei 503 Punkten nach 509 Zählern im Jahr 2016, in dem die letzte Pisa-Studie erschien. Am besten schnitten Schüler in China und Singapur ab.
Es sei gut, dass Deutschland über dem Durchschnitt liege, sagte Schuknecht, stellte gleichzeitig aber auch die rhetorische Frage: „Reicht uns das?“Die Studie beantwortet diese Frage mit Nein. Der Anteil der leistungsschwachen Schüler, die das Mindestniveau in den Tests nicht erreichen, ist seit 2015 erstmals in allen drei Bereichen wieder gestiegen – und zwar auf 20 Prozent. Eindeutig ist dabei der Befund, dass der schulische Erfolg immer noch stark vom Einkommen der Eltern abhängt. Deutschland gehöre zu einer Gruppe von Ländern, „auf die der sozialökonomische Hintergrund mehr Einfluss hat als im OECDDurchschnitt“, sagte Schuknecht.
Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Ekin Deligöz sagte dazu, die Pisa-Studie zeige einmal mehr, „dass unser Bildungssystem nicht das hält, was es verspricht, nämlich Chancengleichheit“. Der Missstand habe sich in den vergangenen Jahren sogar noch vergrößert. „Deutschland verliert immens, wenn wir weiter hinnehmen, dass die soziale Herkunft wie kein anderer Faktor den Bildungserfolg von Kindern bestimmt“, kritisierte Deligöz, die auch Vizepräsidentin des Kinderschutzbundes ist. Chancengleichheit
China und Singapur auf den vorderen Plätzen
bedeute, unterschiedliche Voraussetzungen der Kinder anzuerkennen und diese wirksam auszugleichen.
Karliczek betonte, sie sei „zunehmend besorgt“über den Negativtrend der letzten Jahre. „Wir brauchen einen Aufbruch in der Bildungspolitik“, forderte die CDUPolitikerin. Mittelmaß könne für ein Land wie die Bundesrepublik ohne natürliche Ressourcen „nicht der Maßstab sein“, sagte Karliczek, die „für eine bessere Verzahnung aller Bildungssysteme“plädiert. Der Bund habe das Problem, dass er mit 16 Ländern sprechen müsse. Deshalb müssten die Länder jetzt eine Antwort finden, wie sie mit dem Angebot des Bundes für die Unterstützung umgehen wollten. Möglicherweise bekommt Karliczek diese Antwort ganz schnell: Die Länderminister kommen am Donnerstag zur Kultusministerkonferenz zusammen.
Augsburg Die Pisa-Studie ist die größte internationale Schulleistungsvergleichsstudie. Seit dem Jahr 2000 werden dafür alle drei Jahre weltweit hunderttausende Schüler im Alter von 15 Jahren getestet. Dieses Mal nahmen rund 600000 Schülerinnen und Schüler aus 79 Ländern teil, in Deutschland knapp 5500. Es war die mittlerweile siebte Runde. Diesmal blieb zwar der Pisa-Schock aus, doch die Ergebnisse klingen durchwachsen. Sieben wichtige Erkenntnisse aus der Untersuchung:
1. Der Schulerfolg hängt in Deutschland stärker von der sozialen Herkunft der Schüler ab als im Durchschnitt der OECD-Länder. „Chancengerechtigkeit bleibt eine der Herausforderungen für das deutsche Bildungssystem“, schreiben die Pisa-Verantwortlichen. „So hat sich in Deutschland seit der letzten Pisa-Studie mit Leseschwerpunkt (2009) beim Leseverständnis die Abhängigkeit der Leistung von der Herkunft noch verstärkt.“Erfreulich sei, dass es in Deutschland rund zehn Prozent der benachteiligten Schüler gelinge, beim Leseverständnis innerhalb Deutschlands zu den besten 25 Prozent zu gehören. In einigen PisaTeilnehmerländern, wie Macao (China) und Estland, gelingt dies allerdings sogar mehr als 15 Prozent der benachteiligten Schüler. „Menschen mit niedrigen Basiskompetenzen laufen heute mehr denn je Gefahr, ausgegrenzt zu werden“, sagte OECD-Vizegeneralsekretär Ludger Schuknecht bei der Vorstellung der Studie in Berlin. „Die Pisa-Ergebnisse sind deshalb eine dringende Aufforderung, in der Schule niemanden zurückzulassen, sondern allen Schülerinnen und Schülern die Kompetenzen zu vermitteln, die sie brauchen, um in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts zu bestehen.“
2. Es gibt Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Beim Lesekompetenztest schnitten die Mädchen in allen Ländern und Volkswirtschaften, die an Pisa 2018 teilnahmen, deutlich besser ab als die Jungen. In Mathematik erzielten die Jungen in Deutschland im Schnitt sieben Punkte mehr als die Mädchen. In Naturwissenschaften weisen die Mädchen und die Jungen dagegen ein ähnliches Leistungsniveau auf, da sich die Leistungen der Jungen verschlechtert haben.
3. Deutsche Schüler lesen nicht gerne.
fünfte 15-Jährige erreicht beim Lesen gerade einmal Grundschulniveau. Neben den Tests, die die Schüler absolvieren mussten, wurde auch das Thema „Lesefreude“abgefragt. Im Zehnjahresvergleich wird dabei sichtbar, dass das Interesse der Jugendlichen am Lesen abnimmt. Jeder zweite befragte 15-Jährige in Deutschland sagte: Ich „lese nur, wenn ich lesen muss“oder „um Informationen zu bekommen, die ich brauche“. Lesen als liebstes Hobby gab nur jeder Vierte an. Mehr Schüler (34 Prozent) sagten dagegen, für sie sei Lesen Zeitverschwendung. Insgesamt schnitten Mädchen in Deutschland beim Leseverständnis deutlich besser ab als Jungen. „In fast allen Ländern zeigt sich eine wachsende Leseunlust“, sagt Bildungsforscherin Kristina Reiss. „Viele Jugendliche lesen heute nicht mehr zum Vergnügen. Sie lesen vor allem, wenn sie Informationen benötigen.“
4. Der gewachsene Anteil von Migranten in den Schulen hat auch Folgen für den Pisa-Test. „Einer der Faktoren hinter dem Leistungsrückgang können die seit der Flüchtlingskrise gestiegenen Ansprüche an das Bildungssystem sein“, hieß es von der OECD. Der Anteil der Schüler mit Migrationshintergrund hat sich in Deutschland zwischen 2009 und 2018 von 18 auf 22 Prozent erhöht. Die Hälfte dieser Schüler kommt aus ärmeren und bildungsfernen Familien. Das schlägt sich in der Leistung nieder: Zwischen Schülern mit und Schülern ohne Migrationshintergrund besteht im Bereich LeseJeder kompetenz ein gewaltiger Leistungsabstand. Vor allem, wenn es um die Lesekompetenz geht, haben Schüler mit Migrationshintergrund größere Schwächen als der Durchschnitt. Doch es gibt auch gute Nachrichten, wie Alexander Lorz, der Präsident der Kultusministerkonferenz, betont: „Die Schüler mit Zuwanderungshintergrund in der zweiten Generation, also diejenigen, die hier geboren wurden und unser Bildungssystem durchlaufen haben, haben sich gegenüber den früheren Pisa-Studien deutlich verbessert.“Schulen würden also einen wichtigen Beitrag zu deren Integration leisten.
5. Die Schule hat großen Einfluss auf die Gefühlslage der Kinder und Jugendlichen. In Deutschland sind 67
Prozent der Schüler eigenen Angaben zufolge mit ihrem Leben zufrieden – das entspricht dem OECDDurchschnitt. Etwa 92 Prozent der Kinder und Jugendlichen geben an, manchmal oder immer glücklich zu sein. Etwa vier Prozent bezeichnen sich als immer traurig. „Schüler, die von einem stärkeren Zugehörigkeitsgefühl in der Schule und einer stärkeren Zusammenarbeit unter den Schülern berichten, beschreiben ihren Gefühlszustand häufiger mit positiven Adjektiven“, berichten die Pisa-Organisatoren. Auffällig: In fast allen Ländern sind die Mädchen Eigenangaben zufolge in stärkerem Maße von Versagensängsten betroffen als die Jungen.
6. Deutsche Schulen sind schlecht ausgestattet. In Deutschland berichten die Schulleitungen über größere Personal- und Ausstattungsmängel als in den meisten anderen Ländern. Hinzu kommt: Schulen, die in ärmeren Gegenden liegen, sind häufiger mit Personalmangel konfrontiert als „sozioökonomisch begünstigte“Schulen. In Deutschland sind 70 Prozent der Schüler, die benachteiligte Schulen besuchen, zumindest bis zu einem gewissen Grad von Unterrichtsbeeinträchtigungen durch Lehrkräftemangel betroffen. Bei Schülern, die bessere Schulen besuchen, trifft dies dagegen nur auf 34 Prozent zu.
7. Asien ist Spitzenreiter beim PisaTest. Mit seinen Metropolen Peking und Shanghai sowie den Provinzen Zhejiang und Jiangsu hat China in der aktuellen Pisa-Studie überall die Spitzenplätze belegt – sowohl beim Lesen als auch in Mathematik und Naturwissenschaften. Bei den Siegern handelt es sich stets um wohlhabende und wirtschaftlich stark entwickelte Gebiete. In ärmeren Regionen und vor allem im ländlichen Raum ist auch das chinesische Bildungssystem bei weitem nicht so gut entwickelt. Die teilnehmenden Länder bestimmen selbst, wer bei ihnen bei Pisa mitmacht. Der Leistungsvorsprung der chinesischen Schüler gegenüber anderen dürfte aber auch kulturelle Ursachen haben. Chinesische Kinder müssen extrem viel lernen. Das beginnt bereits im Kindergartenalter. Die Kinder stecken früh in einem harten Konkurrenzkampf. Es ist ein Rennen um die Zulassung für gute Schulen, die sich die besten Schüler aussuchen können. Mehr als die Hälfte des Unterrichtsstoffs widmet sich nach Angaben von Experten der chinesischen Sprache und der Mathematik.