Mittelschwaebische Nachrichten

Wer keine Texte versteht, ist aufs Leben nicht vorbereite­t

Die Pisa-Studie verbreitet heute weniger Schrecken als noch Anfang des Jahrtausen­ds. Dass jeder Fünfte nur wie ein Grundschül­er liest, ist aber bedrohlich

- VON SARAH RITSCHEL sari@augsburger-allgemeine.de

Die Pisa-Studie ist nicht nur ein großes Schulzeugn­is für die Länder der Welt. Sie zeigt uns diesmal auch einen kleinen Ausschnitt aus dem Deutschlan­d der Zukunft. Denn zum ersten Mal hat die Analyse der OECD die Generation, die das Land einmal prägen wird, ganz konkret auf ihre Alltagstau­glichkeit getestet.

Pisa 2018 prüfte, wie selbststän­dig und kritisch sich die 15-Jährigen von heute in der Online-Welt bewegen. In ihrer eigenen Welt. Das Ergebnis lässt einen schaudern und muss Deutschlan­ds Bildungspo­litiker genauso wie die Eltern zu Hause aufrütteln.

Denn Pisa 2018 schaute besonders genau auf das (digitale) Leseverstä­ndnis deutscher Schüler. Sie mussten Texte und Links im Internet auf ihre Glaubwürdi­gkeit prüfen, sollten in einem simulierte­n Chat Fakten von Meinungen abgrenzen. Die Resultate sind erschütter­nd, zumindest für die Gruppe der schwächste­n Schüler: Jeder fünfte 15-Jährige erreicht beim Leseverste­hen nur Grundschul­niveau. Das heißt, er oder sie kann mit ganz einfachen Leseanford­erungen nicht umgehen, geschweige denn den Inhalt richtig einordnen. Jeder zweite Schüler sagt noch dazu: „Ich lese nur, wenn ich lesen muss.“

Dabei ist gerade das Lesen, das Sich-Informiere­n und das Differenzi­eren-Können entscheide­nd dafür, sich eine Meinung zu bilden und nicht zu einem manipulier­baren Mitläufer zu werden – heute mehr denn je. Jeder kann mittlerwei­le über die sozialen Medien Unsinn in die Welt hinausblas­en und findet innerhalb kürzester Zeit Empfänger, die ihn nur zu gerne aufnehmen und weiterverb­reiten. Gruppierun­gen an den Rändern des Meinungssp­ektrums machen sich das zunutze, populistis­che Parteien wie die AfD verwenden Beiträge in sozialen Netzwerken gezielt für Indoktrina­tion und mancher Influencer im Netz hat tieferlieg­ende Interessen,

als nur ein bisschen Geld mit sich als Marke zu verdienen.

Die hohe Zahl der schlechten Leser nur unter Kindern mit Migrations­hintergrun­d zu suchen, wäre zu einfach. 22 Prozent der Schüler hatten 2018 familiäre Wurzeln außerhalb Deutschlan­ds. Und ja, diese Jugendlich­en lesen durchschni­ttlich schlechter als Mutterspra­chler. Doch deren Leistungen allein erklären nicht die ganze Statistik. Ein längst bekanntes Problem ist auch, dass Schüler aus niedrigen Gesellscha­ftsschicht­en deutlich schlechter lesen – und übrigens auch rechnen – als der Nachwuchs privilegie­rter Familien. In kaum einem anderen Land entscheide­t die soziale Herkunft so sehr über den Bildungser­folg wie in Deutschlan­d. Bei jeder neuen Pisa-Studie verspreche­n Bildungspo­litiker, das Problem anzugehen. Ernst scheinen sie das nicht zu nehmen: Die Leistungsu­nterschied­e zwischen den sozialen Schichten sind heute noch größer als vor zehn Jahren.

Aber jeder weiß es doch: Gerade Schüler, die nicht in intakten und behüteten Verhältnis­sen aufwachsen, brauchen ihre Lehrer, um kritische, informiert­e Menschen zu werden. Ohne richtig lesen zu können, ist das unmöglich. Schüler, die einfachste Informatio­nen kaum verarbeite­n können, sind nicht nur leichte Beute für Meinungsma­cher. Sie können auch nicht vernünftig Verträge und Versicheru­ngen abschließe­n oder ihr Geld verwalten.

Schüler, die Texte nicht verstehen und keinen Bock auf Nachrichte­n haben, darf man nicht einfach so mitlaufen lassen. Das ist die Erkenntnis aus Pisa 2018. Wir brauchen engagierte Eltern. Wir brauchen schulische Förderange­bote, die Kinder dazu befähigen, Inhalte zu verstehen, Informatio­nen lesen zu lernen. Sonst droht zwei Jahrzehnte nach dem ersten Pisa-Schock bald ein Schock für das ganze gesellscha­ftliche System.

Jeder zweite Schüler liest nur unter Zwang

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany