Mittelschwaebische Nachrichten
Der Kampf eines Lidl-Mitarbeiters
Gerichtsverfahren Der Discounter hat einem Betriebsrat gekündigt, weil er Kollegen und Vorgesetzte beleidigt haben soll. Der Betroffene sieht es anders und erhebt Vorwürfe gegen das Unternehmen. Nun treffen sich beide Seiten vor Gericht. In der Region ist
Graben Der gebürtige Augsburger Aytekin Erayabakan ist ein Mann der klaren Worte. Einer, der Missstände anspricht. Die Füße stillhalten oder gar aufgeben ist für ihn keine Option. 44 Jahre ist Erayabakan alt, seit acht Jahren arbeitet er als Sachbearbeiter im Warenausgang im Lidl-Logistikzentrum in Graben im Kreis Augsburg. Vor sechs Wochen wurde ihm fristlos gekündigt – mal wieder. Nun klagt der gebürtige Augsburger am Arbeitsgericht gegen diesen Schritt. Es ist nicht das erste Mal in Schwaben, dass die Kündigung von Betriebsräten die Gerichte beschäftigt.
2014 wehrte sich zum Beispiel der Betriebsratschef von Legoland erfolgreich gegen seine Kündigung. 2014 ging auch Burger King gegen Betriebsräte vor. Auch dem Betriebsratsvorsitzenden von Weltbild wurde bereits erfolglos versucht, zu kündigen. Erwin Helmer ist Leiter der Katholischen Betriebsseelsorge der Diözese Augsburg und hilft den
Betriebsräten in diesen schwierigen Zeiten: „Dieses Vorgehen der Unternehmen zeigt selbst bei starken Leuten mitunter Wirkung, selbst wenn sie – wie in fast allen Fällen – vor Gericht gewinnen. Viele Betriebsräte müssen sich an einen Arzt oder gar Psychologen wenden.“Für diese Menschen sei es wichtig, zu sehen, dass sie nicht alleine sind. Auch deshalb war er beim Gütetermin in Augsburg vor Ort – und mit ihm mehr als 20 Gewerkschafter und Lidl-Kollegen von Erayabakan.
Die von Lidl vorgebrachten Vorwürfe gegen den 44-Jährigen, der in der Gewerkschaft aktiv ist und im Betriebsrat war, wiegen schwer: Auf seiner privaten Facebook-Seite soll er einen Beitrag über „korrupte Führungskräfte und Betriebsräte“bei Lidl in Graben geschrieben haben. Dies sei aber nur eine von vielen Verfehlungen gewesen, sagt Lidl-Anwalt Björn Gaul. In der Vergangenheit soll der Augsburger Kollegen und Führungskräfte mehrfach massiv beleidigt und sich Arbeitsaufforderungen widersetzt haben. „Das ist eine extreme Belastung für das Unternehmen. Nach vielen Abmahnungen ist die Geduld nun am Ende“, sagte Gaul bei dem Gütetermin. Weitere Auskünfte wollte Gaul nicht geben.
Erayabakan und sein Anwalt Rüdiger Helm sehen das anders. Sie argumentieren, dass korrupt laut Definition eine „moralisch verwerfliche Verhaltensweise“aufzeige und nicht mit Bestechlichkeit gleichzusetzen sei. Eine fristlose Kündigung sei deshalb nicht rechtens. Außerdem müsse diese Äußerung im Kontext zu sehen sein. So wurde dem 44-Jährigen bereits Ende 2016 innerhalb weniger Monate zwei Mal gekündigt – wegen Beleidigung. Der Fall landete vor dem Arbeitsgericht, Erayabakan gewann. An einer gütlichen Einigung, sprich einer Abfindung, war er damals wie heute nicht interessiert. „Ich lasse mich nicht kaufen“, sagte Erayabakan. Er bringt die Anschuldigungen gegen sich mit seiner Tätigkeit in der Gewerkschaft und im Betriebsrat in Verbindung.
Die Gewerkschaft spricht in solchen Fällen vom sogenannten „Union Busting“. Damit wird die systematische Bekämpfung, Unterdrückung und Sabotage von Arbeitnehmervertretungen, also Gewerkschaften und Betriebsräten, bezeichnet. Erayabakan setzte sich beispielsweise für Betriebsratswahlen ein, die erstmals im Sommer 2016 stattfanden. Mehr Mitbestimmung, Mitarbeiter gerecht behandeln und ohne Angst arbeiten zu können – das seien seine wichtigsten Ziele. Im Sommer 2017 setzte die Gewerkschaft – wieder war Erayabakan einer der Initiatoren – eine einheitliche Tarifstruktur für alle Lidl-Lagerlogistikzentren durch. Etwa 3300 Beschäftigte erhielten dadurch zwischen 20 und 30 Prozent mehr Geld.
Für die Gewerkschaft Verdi sieht die Sache so aus: „Lidl tut alles, um betriebsratsfrei zu sein. Aber das ist ihnen in Graben nicht geglückt“, sagt Verdi-Sekretär Thomas Gürlebeck. Seinem Eindruck nach versuche das Unternehmen, die Angestellten
einzuschüchtern. „Sie gehen auf unsere Leute los“, wirft Gürlebeck Lidl vor. Als Beispiel führt er die jüngste Betriebsratswahl in Graben an, bei der die Gewerkschaftsliste – auf der auch Erayabakan stand – nicht zugelassen wurde. Die Wahl wurde vor Gericht angefochten und wird diese Woche wiederholt – mit der Liste der Gewerkschaft und dem entlassenen Erayabakan.
Lidl erklärt, dass die Kündigung des Mitarbeiters in Graben in keinem Zusammenhang mit einer gewerkschaftlichen Tätigkeit oder einer Betriebsratstätigkeit stehe: „Wir arbeiten seit vielen Jahren vertrauensvoll und gut mit unseren Betriebsräten deutschlandweit zusammen“, teilt das Unternehmen mit.
Betriebsseelsorger Helmer vermutet einen Zusammenhang zwischen der Betriebsratstätigkeit des Augsburgers und dessen fristloser Kündigung: „Ohne Aytekin gäbe es in Graben keinen funktionierenden Betriebsrat.“Helmer kritisiert, dass es sogar Schulungen und Bücher gibt, wie man unliebsame Betriebsräte unter Druck setze und loswerde.
Erayabakan nimmt die Situation stark mit: Er sei inzwischen psychisch angeschlagen – so laute das Urteil zweier Therapeuten. Der Augsburger ist Vater einer dreijährigen Tochter und pflege seine schwerbehinderte Mutter. Wie es in seinem Fall weitergeht, wird Ende Februar entschieden. Dann wird am Arbeitsgericht verhandelt.