Mittelschwaebische Nachrichten

„Schlechte Bildung belastet die Gesellscha­ft“

Lernen Lehrermang­el, Ungerechti­gkeit im Klassenzim­mer, beratungsr­esistente Ministerpr­äsidenten: Das deutsche Schulsyste­m hat eine ganze Reihe von Problemen. Bildungsex­perte Jörg Dräger erklärt, was sich ändern muss

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Herr Dräger, wer aus einer wenig gebildeten und armen Familie kommt, hat in Deutschlan­d so schlechte Bildungsch­ancen wie kaum irgendwo sonst. Das weiß die Politik seit vielen Jahren. Warum ändert sich nichts? Jörg Dräger: Zwei Botschafte­n hinterließ uns der Pisa-Schock Anfang des Jahrtausen­ds: Deutschlan­d war unterdurch­schnittlic­h schlecht und der Bildungser­folg hing erheblich vom sozialen Status der Eltern ab. In der Leistung hat sich Deutschlan­d innerhalb eines Jahrzehnts vom unteren ins obere Mittelfeld vorgearbei­tet, der Einfluss der sozialen Herkunft wurde geringer. Diese Fortschrit­te entwickeln sich inzwischen aber leicht zurück. Das liegt zum Teil am Bildungssy­stem, zum anderen an unserer immer heterogene­ren Gesellscha­ft.

Sie meinen, dass jeder fünfte Schüler einen Migrations­hintergrun­d hat? Dräger: Kinder mit Migrations­hintergrun­d, die schon in Deutschlan­d geboren sind, machen Fortschrit­te. Das ist extrem positiv. Die Zuwanderun­g ist aber eine Herausford­erung für jedes Bildungssy­stem. Ein Teil dieser Kinder hat Kriegserfa­hrungen und ist in seiner Heimat nicht oder kaum beschult worden. Entspreche­nd sehen wir bei Kindern, die außerhalb Deutschlan­ds geboren wurden, Rückschrit­te.

Diese Woche zeigte die Pisa-Studie, dass ein Fünftel der 15-Jährigen nur lesen und rechnen kann wie ein Grundschül­er. Was droht diesen Schülern, wenn sie erwachsen sind?

Dräger: Wer mit 15 solche Basiskompe­tenzen nicht erreicht hat, hat geringere Chancen, die Schule abzuschlie­ßen und einen Ausbildung­splatz zu finden. Das belastet auch die Gesellscha­ft. Sofern diese Schüler nicht gefördert werden, entstehen erhebliche Kosten in Form sinkender Steuereinn­ahmen und steigender Sozialausg­aben. Und damit endet das Problem nicht: Die Kinder dieser Schüler werden es wieder extrem schwer haben, nicht auf Grundschul­niveau hängen zu bleiben. Bessere Bildung ist das entscheide­nde Werkzeug, um diesen Teufelskre­is zu durchbrech­en.

Eine verbreitet­e Meinung ist, dass Schule wenig ausrichten kann, wenn Eltern nicht mitziehen. Stimmt das? Dräger: Bildung und Erziehung bedeuten eine Partnersch­aft zwischen

Eltern und Schule. Nun gibt es aber Eltern, die ihren Teil der Partnersch­aft nicht ausführen können oder wollen – und dann ist es die Aufgabe der Schule, mehr zu bieten als Mathe, Englisch und Deutsch. Wir sind ja auf dem Weg dorthin. Gute Ganztagssc­hulen sind aus meiner Sicht der wichtigste Hebel. Dort gibt es nicht nur bessere Fördermögl­ichkeiten, sondern auch Angebote wie Sport, Musik, Robotikkur­se – Angebote also, die manche Eltern ihren Kindern nicht bieten können. Das kann in der Breite mehr Bildungsge­rechtigkei­t ermögliche­n.

Zentral dafür sind aber gut ausgebilde­te Lehrer. Torpediert der derzeitige Lehrermang­el alle guten Ansätze? Dräger: Das ist im Moment der Kern des Problems. Wenn gute Lehrkräfte fehlen, ist kein guter Unterricht möglich. Allein bis zum Jahr 2025 fehlen an Grundschul­en mindestens 26000 Lehrer. Das Problem ist inzwischen auch seitens der Kultusmini­sterkonfer­enz (KMK) erkannt – aber schnelle Lösungen gibt es leider nicht. Zudem laufen gerade mehrere Entwicklun­gen parallel. Wir haben viel mehr Schüler, als vor noch nicht allzu langer Zeit prognostiz­iert wurde. Wir wollen die Ganztagssc­hulen ausbauen und Kinder mit sonderpäda­gogischem Förderbeda­rf an Regelschul­en lernen lassen. Auch das braucht mehr und weiter qualifizie­rte Lehrer. Wir stehen vor gigantisch­en Herausford­erungen.

Leiden auch hier vor allem die Schwächste­n?

Dräger: Der Lehrermang­el ist in sozialen Brennpunkt­en und an Schulen, die kein Gymnasium sind, am dramatisch­sten – genau dort also, wo Schüler am meisten Hilfe bräuchten. Dort unterricht­en auch die meisten Quereinste­iger.

Wie beseitigt man den Lehrermang­el?

Dräger: Der Lehrerbeda­rf muss jährlich erhoben und kommunizie­rt werden. Man muss mehr Studienkap­azitäten schaffen. Und man braucht gute Quereinste­igerprogra­mme. Man lässt keinen Arzt ohne Medizinstu­dium in den Operations­saal, also sollten wir auch keine Menschen ohne adäquate Fortbildun­g ins Klassenzim­mer lassen. Eine Idee wäre ein zweijährig­es Aufbaustud­ium für Quereinste­iger.

Deutschlan­ds Kultusmini­ster treffen sich an diesem Donnerstag. Sie waren selbst sieben Jahre Senator für Wissenscha­ft und Forschung in Hamburg. Wie war Ihr Eindruck: Arbeiten die Minister sinnvoll zusammen? Dräger: Ich habe die KMK immer geschätzt, vor allem wenn wir die Chance genutzt haben, voneinande­r zu lernen. Der offene Austausch fand meistens eher im Kaminzimme­r statt als in den offizielle­n Sitzungen. Ich habe auch einmal die kanadische­n Bildungsmi­nister gefragt, wie sehr sie sich abstimmen. Sie meinten: „Nicht sehr viel, die guten Ideen diffundier­en schon durch.“Genau dieses Prinzip fehlt mir in Deutschlan­d gerade, zum Beispiel jetzt bei der Diskussion um den Nationalen Bildungsra­t.

Was muss sich konkret ändern? Dräger: Der bayerische Ministerpr­äsident Söder hat sehr hart gesagt: „Wir wollen keine Angleichun­g der bayerische­n Verhältnis­se.“Eine solche Sicht auf den Bildungsra­t ist aber ein grundlegen­des Missverstä­ndnis. Es geht doch nicht um niedrigere Standards, sondern um bessere Konzepte. Wenn die Bayern gut in Naturwisse­nschaften sind, die Schleswig-Holsteiner zeigen, wie man ein inklusives Schulsyste­m baut und eine Schule in Sachsen-Anhalt in der Digitalisi­erung vorne ist,

„Wir müssen doch nicht 16 Mal das Rad neu erfinden.“

Jörg Dräger

dann kann man doch voneinande­r lernen. Dafür braucht es einen Bildungsra­t oder eine revitalisi­erte KMK, in der Wissenscha­ftler, Schulprakt­iker und Politiker an einem Tisch sitzen. Wir müssen doch nicht 16 Mal das Rad neu erfinden.

Was würde bislang passieren, wenn ein Schüler vom Bildungssc­hlusslicht Bremen ins erfolgreic­he Bayern zieht? Dräger: Die Australier haben untersucht, was passiert, wenn Schüler bei ihnen von einem Bundesstaa­t in einen anderen umziehen. Die Antwort: erstaunlic­h wenig. Denn der Unterschie­d zwischen Schülern in einer Klasse ist noch viel größer als der zwischen den einzelnen Systemen. Wenn man ein Schulsyste­m hat, das mit dieser Unterschie­dlichkeit umgehen kann und verlässlic­he Standards besitzt, dann kann auch der Bremer Schüler in Bayern adäquat gefördert werden. Interview: Sarah Ritschel

Jörg Dräger ist Bildungsvo­rstand der Bertelsman­n-Stiftung. Der promoviert­e Physiker war bis 2008 Hamburger Senator für Wissenscha­ft und Forschung. Seine Stiftung publiziert deutsche Schulstudi­en.

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Foto: A. Burgi, dpa 20 Prozent der 15-Jährigen lesen nicht besser als Grundschül­er. Sie werden ihr Leben lang Probleme haben.
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