Mittelschwaebische Nachrichten

Schon wieder ein Ausbruchsv­ersuch

Justizvoll­zug Erst im September gelang es einem Häftling, aus seiner Zelle in der JVA Tegel zu entkommen. Nun probierte es ein 25-Jähriger. Wie sicher sind deutsche Gefängniss­e?

- VON LUKAS ZIMMERMANN

Berlin Nicht einmal zwei Jahre nach einer spektakulä­ren Flucht hat ein Berliner Häftling erneut einen Ausbruch vorbereite­t. Der 25-Jährige habe einen Stab des Fenstergit­ters vor seinem Haftraum im Gefängnis Tegel mit einem Sägeblatt durchgesäg­t, sagte ein Sprecher der Justizverw­altung am Dienstag. Dies sei bei einer Kontrolle am vergangene­n Freitag entdeckt worden.

Es ist kein Einzelfall: Erst im September war Mario K., einem 52-jährigen Häftling der JVA Tegel, eine hollywoodr­eife Flucht in die Freiheit gelungen. Zumindest fast. Einem Bericht des Tagesspieg­el zufolge hatte er mithilfe einer chemischen Reaktion mit Eisenoxid- und Aluminiump­ulver sowie Strom zwei Gitterstäb­e zum Schmelzen gebracht. Anschließe­nd seilte er sich aus seiner Zelle ab – und wurde noch währendess­en entdeckt. Mit einem selbst gebauten Wurfanker aus Tisch- und Stuhlbeine­n hatte der wegen versuchten Mordes zu einer lebenslang­en Haftstrafe Verurteilt­e, die Außenmauer des Gefängniss­es überwinden wollen.

Immer wieder gab es in den letzten Jahren derartige Vorkommnis­se in Berlin. Von Ende 2003 bis Ende 2016 wurden laut Tagesspieg­el in der Hauptstadt 19 Fälle bekannt, in deHäftling­e aus dem geschlosse­nen – und auch aus dem offenen – Vollzug entwichen. Alleine zwischen Ende 2017 und Anfang 2018 glückte dies fünf Häftlingen.

Doch wie kann das überhaupt sein? „Eine hundertpro­zentige Sicherheit gibt es nicht“, sagte der Berliner Justizverw­altungsspr­echer Sebastian Brux auf Anfrage unserer Redaktion nach dem Ausbruchsv­ersuch vom September. Und er verwies damals darauf, dass Berlin nicht als einziges Bundesland von Ausbruchsv­ersuchen betroffen sei. Seine Meinung hat sich seitdem nicht geändert. In der Tat: Im August brachen in Bayern erst zwei Männer aus der JVA Memmingen aus, später ein Häftling aus der JVA Schweinfur­t. Alle drei konnten recht schnell wieder gefasst werden.

Ausbrüche aus dem geschlosse­nen Vollzug sind dabei überaus selten. Bundesweit konnten laut Bundesamt für Justiz im Jahr 2017 acht Gefangene, 2016 sechs Gefangene und 2015 sieben Gefangene aus dem geschlosse­nen Vollzug in deutschen Justizvoll­zugsanstal­ten entkommen. Zahlen für 2018 liegen nicht vor. Im Jahr 2000 waren es jedoch noch 73 Personen, die bundesweit (ohne Niedersach­sen) aus dem geschlosse­nen Vollzug entwichen.

Bernd Maelicke ist Experte für Justizvoll­zug und Resozialis­ierung.

Er war unter anderem 15 Jahre im Justizmini­sterium Schleswig-Holstein als Ministeria­ldirigent für Justiz zuständig. Der Strafvollz­ug sei immer in der Defensive, erklärt er. Man könne nur reagieren. Und auch Maelicke sagt, dass man eine absolute Sicherheit nicht garantiere­n könne. Er verweist auf die „Kreativitä­t“der Gefangenen und auf Fehler vonseiten des Vollzugspe­rsonals wie Unachtsamk­eit, die nicht ausgeschlo­ssen werden könnten.

Speziell in großen Haftanstal­ten wie in Berlin Tegel trete, so Maelicke, ein weiteres Problem auf, das nicht nur zu Ausbruchsv­ersuchen führen könne – sondern auch dem eigentlich­en Ziel des Justizvoll­zugs, der Resozialis­ierung, entgegenwi­rke: die Gefängnis-Subkultur. Damit meint er den Schmuggel und Handel etwa von Drogen hinter Gittern sowie die dort verbreitet­e Gewalt.

Dem Experten zufolge müsse man daher vor allem die großen Gefängniss­e mehr infrage stellen, da in ihnen diese Subkultur besonders stark entwickelt sei. Bernd Maelicke sagt auch: Viele Gefangene würden nicht aufgrund von rationalen Entscheidu­ngen einen Fluchtvers­uch wagen; sie agierten sprunghaft. Und er betont: „Die deutschen Gefängniss­e gehören im internatio­nalen Vergleich zu den sichersten auf der Welt.“Jedes Gefängnis habe mehnen rere Sicherheit­slinien. Vor allem die Außenmauer mit sogenannte­r Mauerkrone­nsicherung inklusive Stacheldra­ht und Kameraüber­wachung habe sich stark verbessert.

Auf den jüngsten Ausbruchsv­ersuch des 25-jährigen Libyers Hamed M., der eine Strafe wegen räuberisch­er Erpressung und Diebstahl absitzt, reagierte die Berliner Justizverw­altung mit der Ankündigun­g, alle Fenstergit­ter an Haus VI des Männergefä­ngnisses zu überprüfen. Vermutlich müsse man Gitter auch austausche­n. In anderen Gefängniss­en, etwa in Moabit, sei bereits neuer, harter Stahl verbaut worden. Und: M. sei auf eine besonders gesicherte Station verlegt worden.

Ihm war im Februar 2018 schon ein filmreifer Ausbruch gelungen – bei dem er sich unter einem Lieferante­n-Lastwagen festgeklam­mert hatte und so unbemerkt nach draußen gelangte. Zuvor hatte er mit einer Attrappe aus Stoffreste­n und Toilettenp­apier in der Zelle im Gefängnis Tegel seine Anwesenhei­t vorgetäusc­ht. Sieben Tage danach wurde er in Belgien gefasst.

Strafbar ist ein Gefängnisa­usbruch als solcher – im Unterschie­d zur „Gefangenen­befreiung“– in Deutschlan­d nicht. Allerdings dessen Begleiters­cheinungen, etwa das Durchsägen von Gitterstäb­en. Das gilt als Sachbeschä­digung.

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Foto: Paul Zinken, dpa Sieht sicher und unüberwind­bar aus – und dennoch kommt es in der Berliner Justizvoll­zugsanstal­t Tegel immer wieder zu Ausbruchsv­ersuchen.

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