Mittelschwaebische Nachrichten
Als in Mindelheim die Seuche grassierte
Rückblick In der Stadt herrschte vor 71 Jahren schon einmal der Ausnahmezustand. Ursache war damals zwar nicht Corona, aber ein anderer gefährlicher Virus. Wie Helene Steidele die Zeit damals erlebt hat
Mindelheim Für etliche ältere Unterallgäuer ist die Corona-Pandemie nicht die erste Seuche, die sie erleben. Bei unserer Leserin Helene Steidele aus Mindelheim weckt die derzeitige Situation Erinnerungen an 1949. „Im März 1949 grassierte in Mindelheim eine Krankheit, die zunächst als Grippe gedeutet wurde“, schreibt sie. „Als bei den Patienten nach zehn Tagen das hohe Fieber nicht sinken wollte, wurden Blut- und Stuhlproben ins Labor geschickt und die erschreckende Antwort lautete: Typhus.“
Helene Steidele war damals zwölf Jahre alt und besuchte die siebte Klasse der Volksschule – und hat ihre Hefte von damals glücklicherweise bis heute aufgehoben. Darin hat sie einen Aufsatz gefunden, den sie am 15. Juni 1949 über die Typhus-Epidemie geschrieben hat und zeigt, wie es damals in der Stadt zuging. Als klar war, dass es sich um Typhus handelte, wurden die rund 65 Schülerinnen der Mädchenschule, der heutigen Volkshoch- und Musikschule, in die Knabenschule umgesiedelt. „Dort waren wir nur alle drei Tage, dann wurden alle Schulen geschlossen. Wir Schüler hatten vom 24. März bis zum 8. Juni schulfrei, also zehn Wochen.“
Die Frage, ob es damals wie derzeit auch eine Art Heimunterricht gab, beantwortet Helene Steidele mit einem herzlichen Lachen. „So was hat’s doch damals nicht gegeben“, sagt sie. „Außer den Geschäftsleuten hat doch keiner ein Telefon gehabt. Wahrscheinlich haben wir das später nachgeholt“, vermutet sie. „Jedenfalls waren wir hinterher auch nicht dümmer.“
Laut ihrem Aufsatzheft wurde die Mädchenschule zur Isolierstation für die Typhuskranken. „Drei Sanitätsautos fuhren von früh bis spät. Die Zahl der Kranken stieg auf 187. Das Pflegepersonal stammte aus Neuötting, wo es im Jahr zuvor schon Erfahrung mit dieser Seuche gemacht hat. Es fanden Impfungen statt, um die Ansteckung einzudämmen. Fünf Personen fielen dieser Krankheit zum Opfer, es war auch eine Krankenschwester darunter.“
In der „Mittelschwäbischen Tagespost“vom 22. März 1949 heißt es: „Der beste Schutz gegen Infektionskrankheiten ist Sauberkeit. (...) Das Gesundheitsamt gibt zum Besten der Bevölkerung jedermann den guten Rat, die Hände häufig zu reinigen, besonders nach dem Essen und der Verrichtung der Notdurft, ferner Wasser und Milch vor dem Genuß stets abzukochen, von der unentgeltlichen Impfung, die täglich, außer samstags, ab 16.30 Uhr im Gesundheitsamt Mindelheim stattfindet, möglichst zahlreich Gebrauch zu machen und vor allem bei Erkrankung rechtzeitig zum Arzt zu gehen.“Laut dem damaligen Leiter des Gesundheitsamtes, Dr. Jaesche seien alle Maßnahmen getroffen, um eine weitere Verbreitung des Typhus zu verhindern. „Das Wasser wird laufend unter Kontrolle gehalten. Schwestern und Ärzte sowie Seuchenbekämpfungs- und Desinfektionstrupps sind eingesetzt.“Weiter wird der Mediziner folgendermaßen zitiert: „Es ist ein Verhängnis gewesen, daß zur selben Zeit als Typhus sich in Mindelheim ausbreitete, die Grippe auftrat. Da die Erscheinungen der Grippe viel lebhafter sind, wurde der Anfang der Typhuserkrankung fast immer übersehen. So konnte es kommen, dass zahlreiche Leute in der Annahme, grippekrank zu sein, überhaupt keinen Arzt aufsuchten. (...) Ein Grund zur allgemeinen Beunruhigung ist nicht gegeben, wohl aber die Veranlassung, durch Vorsichtsmaßregeln uns selbst zu schützen und die Krankheit mitbekämpfen zu helfen. Darum wird der Bevölkerung dringend ans Herz gelegt, alle Ratschläge genau zu befolgen.“
Helene Steidele erinnert sich noch an die Kranken, die an Seilen Körbe aus ihren Zimmerfenstern zu den Angehörigen unten auf der Straße hinunterließen, damit diese ihnen ein paar der ohnehin spärlichen Lebensmittel zukommen lassen konnten. Viele Geschäftsleute hatten die Griffe ihrer Türen mit Tüchern umwickelt, die mit Desinfektionsmittel getränkt waren, um den Kunden die Angst vor einer Ansteckung zu nehmen – allerdings wohl mit überschaubarem Erfolg. „Die Geschäftsleute mussten Einbußen hinnehmen, hauptsächlich die Landbevölkerung hat unsere Stadt aus Angst vor Ansteckung gemieden. Die Ursache der Krankheit wurde dem Wasser angelastet“, schreibt sie.
An Ausgangsbeschränkungen, wie sie derzeit gelten, erinnert sich
Helene Steidele nicht. „Aber ich war damals ja auch erst zwölf Jahr alt. Da interessiert einen so etwas nicht so besonders“, sagt sie. Laut einem weiteren Zeitungsbericht vom 26. März 1949 durften die Mindelheimer zwar nach wie vor das Haus verlassen, laut einer kreispolizeilichen Vorschrift waren aber „Veranstaltungen jeder Art (Versammlungen, Kabarette, Tanzunterhaltungen usw.) im Stadtbereich Mindelheim, die eine Ansammlung von Menschen mit sich bringen, verboten.“Den Einwohnern des Stadtbereichs Mindelheim war außerdem „die Teilnahme an auswärtigen Veranstaltungen der vorbezeichneten Art“untersagt. Theater- und Filmaufführungen waren von dem Verbot ausgenommen. „Jedoch wird die Bevölkerung aufgefordert, die Abtritte daselbst möglichst nicht zu benutzen.“Sämtliche Schulen im Stadtbereich wurden geschlossen und die Eltern aufgefordert, „dafür zu sorgen, daß ihre Kinder Gelegenheiten, die eine Infektion mit sich bringen können (Sport-, Spiel- und Tummelplätze usw.), fernbleiben“.
Empfehlungen, die auch heute wieder aktuell sind – und an die sich auch Helene Steidele hält. Zumal die 83-Jährige derzeit ohnehin wenig Lust hat, das Haus zu verlassen: „Ich bin mit dem Rad gestürzt und hab mir das ganze Gesicht verfallen“, sagt sie trotzdem gut gelaunt. „So will man sowieso nicht unter die Leute.“(baus)
Die Kinder hatten zehn Wochen schulfrei