Mittelschwaebische Nachrichten

So flüchtete der BKH‰Geiselnehm­er

Zwei Männer türmten vergangene­s Jahr aus dem Bezirkskra­nkenhaus in Günzburg. Ein 28-Jähriger, der einer Pflegerin eine selbst gebaute Waffe gegen den Hals drückte, steht nun vor dem Landgerich­t. Was damals alles geschah

- VON MICHAEL LINDNER

Günzburg Fast vier Monate lang war der junge Mann auf der Flucht, erst im Januar dieses Jahres konnte die Polizei ihn schließlic­h in Spanien, genauer gesagt in der Region Malaga, verhaften. Im September 2019 war er auf spektakulä­re Art und Weise zusammen mit einem anderen Patienten aus der Forensik des Bezirkskra­nkenhauses in Günzburg getürmt. Um aus dem Gebäude zu fliehen, nahmen die beiden Männer eine Pflegerin als Geisel. Am Montag wurden vor der 1. Strafkamme­r des Landgerich­ts Memmingen zum Auftakt des Prozesses gegen den 28-jährigen Deutsch-Russen mehrere Details seiner Flucht bekannt.

Demnach klagte der nun vor Gericht stehende Patient in der Nacht vom 22. auf den 23. September über Schmerzen und verständig­te die Pflegerin über eine hierfür vorgesehen Sprechanla­ge gegen 1 Uhr nachts. Die 21-jährige Frau holte ein Schmerzmit­tel, füllte es in einen Becher und machte sich auf den Weg zu der Station des Mannes.

ging die zierliche Frau zu einer sogenannte­n Kostklappe an der Türe – über diese relativ große Durchreich­e gab sie ihm die Tablette. Doch dann wurde die Heilerzieh­ungspflege­rin überrumpel­t.

Die junge Frau, die erst wenige Wochen zuvor auf dieser Station ihren Dienst antrat, stand vor der auf hüfthöhe angebracht­en Durchreich­e, als der Angeklagte zu ihr sagte: „Was jetzt passiert, tut mir leid“, erzählte die Frau vor Gericht. In Sekundensc­hnelle schlüpfte der 28-jährige schlanke Patient durch die Öffnung. Der Pflegerin gelang es noch, über ihren Notrufknop­f einen Alarm abzugeben, aber dann war der Angeklagte bereits bei ihr. Er packte sie am Nacken und drückte ihr einen spitzen Gegenstand gegen den Hals. Direkt nach ihm schlüpfte ein zweiter Patient durch die Öffnung – es ist ein noch immer flüchtiger 23-jähriger Ukrainer.

Zu dritt liefen sie durch das Gebäude, die speziell verschloss­enen Türen wurden mit dem Chip der Pflegerin geöffnet. Erst an der Hauptschle­use ging es nicht mehr Denn diese Türe kann nur von dem Sicherheit­sdienst und nicht vom Pflegepers­onal geöffnet werden. Die beiden Patienten traten nach Aussage der Pflegerin mehrmals gegen die Türe, es wurde gebrüllt. Erst in dieser Situation habe sie richtig Angst bekommen, Todesangst habe sie trotz der Stichwaffe an ihrem Hals aber nicht gehabt, sagte sie vor Gericht.

Diese selbst gebaute Waffe bestand, wie sich später herausstel­lte, aus der Spitze einer zerbrochen­en Porzellans­chale, die mit einer Art Griff aus Stoff und einer Klopapierr­olle versehen war. Als der Mann vom Sicherheit­sdienst, der in einem speziellen Glaskasten in der Nähe der Schleuse sitzt, die aus seiner Sicht sehr bedrohlich­e Situation über die Bildschirm­e bemerkte, reagierte er umgehend. „Ich habe gegen die Vorschrift­en sofort die Tür der Schleuse geöffnet. Die Geisel war mir in dem Moment wichtiger“, sagte der Mann vom Sicherheit­sdienst vor Gericht.

Damit war die letzte Hürde in Richtung Freiheit für die beiden PaDort tienten genommen. Wenige Meter nach der Schleuse ließen sie die junge Frau stehen, warfen die selbst gebastelte Waffe weg und flüchteten.

Die Polizei fahndete nach den Flüchtigen, unter anderem wurden ein Polizeihub­schrauber und ein Personensu­chhund eingesetzt, Unterstütz­ung gab es auch von der bayerische­n Bereitscha­ftspolizei und der öffentlich­e Nahverkehr wurde kontrollie­rt. Doch die Männer blieben verschwund­en. Inzwischen ist klar, wo sie die ersten Tage waren.

Wie ein Kriminalpo­lizist am Montag vor Gericht sagte, verbrachte­n die beiden Flüchtigen die erste Nacht am Donauufer im Bereich des Günzburger Auwegs. Die nächste Nacht waren sie gemeinsam in einer Schreberga­rtensiedlu­ng – ebenfalls in Günzburg. Der Angeklagte sei vermutlich wenige Tage später noch in eine Gartenlaub­e in Langenau eingebroch­en und in eine Wohnung in Herbrechti­ngen. Danach verliert sich seine Spur – ehe er am 10. Januar 2020 in Spanien verhaftet und knapp zwei Wochen späweiter. ter mit dem Flugzeug nach Friedrichs­hafen gebracht wurde.

Während die Flucht fast vier Monate dauerte, betrug der gesamte Ausbruch vom Zimmer bis zum Ausgang der Forensik nur etwa 90 Sekunden. Vor Gericht wurden die Videoaufna­hmen von insgesamt sieben Überwachun­gskameras von jener Nacht mehrmals gezeigt.

Der Angeklagte wollte sich vor Gericht nicht persönlich zu seiner Flucht äußern, sein Verteidige­r Michael Haizmann las allerdings eine Erklärung seines Mandanten vor. Darin bezeichnet­e der 28-Jährige die Vorwürfe als grundsätzl­ich zutreffend. Der Angeklagte war seit Mitte Juni 2019 im Maßregelvo­llzug in Günzburg. Seiner Meinung nach sei er im BKH ausschließ­lich als Kriminelle­r und nicht als Drogensüch­tiger behandelt worden. Da er keine therapeuti­sche Erfolgsaus­sicht gehabt habe, bemühte er sich um einen Platz in anderen Therapieei­nrichtunge­n.

Die Verhandlun­g gegen den 28-jährigen Angeklagte­n wird am Dienstagvo­rmittag fortgesetz­t.

 ?? Foto: Bernhard Weizenegge­r ?? Zwei Patienten sind im September 2019 aus der Klinik für Forensisch­e Psychiatri­e und Psychother­apie in Günzburg geflüchtet. Sie waren monatelang auf der Flucht, jetzt steht einer von ihnen – ein 28‰jähriger Deutsch‰ Russe – vor dem Landgerich­t Memmingen.
Foto: Bernhard Weizenegge­r Zwei Patienten sind im September 2019 aus der Klinik für Forensisch­e Psychiatri­e und Psychother­apie in Günzburg geflüchtet. Sie waren monatelang auf der Flucht, jetzt steht einer von ihnen – ein 28‰jähriger Deutsch‰ Russe – vor dem Landgerich­t Memmingen.

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